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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Gefahren eines Bruchs mit Rußland.
der politischen und materiellen Interessen erreichen kann, die zwischen
der Ostgrenze des rumänischen Volksstammes und der Bucht von
Cattaro vorhanden sind. Aber es ist nicht die Aufgabe des Deut¬
schen Reichs, seine Unterthanen mit Gut und Blut zur Verwirk¬
lichung von nachbarlichen Wünschen herzuleihen. Die Erhaltung
der östreichisch-ungarischen Monarchie als einer unabhängigen starken
Großmacht ist für Deutschland ein Bedürfniß des Gleichgewichts in
Europa, für das der Friede des Landes bei eintretender Noth¬
wendigkeit mit gutem Gewissen eingesetzt werden kann. Man sollte
sich jedoch in Wien enthalten, über diese Assecuranz hinaus An¬
sprüche aus dem Bündnisse ableiten zu wollen, für die es nicht
geschlossen ist.

Directe Bedrohung des Friedens zwischen Deutschland und
Rußland ist kaum auf anderm Wege möglich, als durch künstliche
Verhetzung oder durch den Ehrgeiz russischer oder deutscher Militärs
von der Art Skobelews, die den Krieg wünschen, bevor sie zu alt
werden, um sich darin auszuzeichnen. Es gehört ein ungewöhnliches
Maß von Dummheit und Verlogenheit in der öffentlichen Meinung
und in der Presse Rußlands dazu, um zu glauben und zu be¬
haupten, daß die deutsche Politik von aggressiven Tendenzen ge¬
leitet worden sei, indem sie das östreichische und dann das italie¬
nische Defensivbündniß abschloß. Die Verlogenheit war mehr pol¬
nisch-französischen, die Dummheit mehr russischen Ursprungs. Pol¬
nisch-französische Gewandheit hat auf dem Felde der russischen
Leichtgläubigkeit und Unwissenheit den Sieg über den Mangel solcher
Gewandheit davongetragen, in dem je nach den Umständen eine
Stärke oder Schwäche der deutschen Politik liegt. In den meisten
Fällen ist eine offne und ehrliche Politik erfolgreicher als die Fein¬
spinnerei früherer Zeiten, aber sie bedarf, wenn sie gelingen soll,
eines Maßes von persönlichem Vertrauen, das leichter zu verlieren
als zu erwerben ist.

Niemand kann die Zukunft Oestreichs an sich mit der Sicher¬
heit berechnen, die für dauernde und organische Verträge erforder¬

Gefahren eines Bruchs mit Rußland.
der politiſchen und materiellen Intereſſen erreichen kann, die zwiſchen
der Oſtgrenze des rumäniſchen Volksſtammes und der Bucht von
Cattaro vorhanden ſind. Aber es iſt nicht die Aufgabe des Deut¬
ſchen Reichs, ſeine Unterthanen mit Gut und Blut zur Verwirk¬
lichung von nachbarlichen Wünſchen herzuleihen. Die Erhaltung
der öſtreichiſch-ungariſchen Monarchie als einer unabhängigen ſtarken
Großmacht iſt für Deutſchland ein Bedürfniß des Gleichgewichts in
Europa, für das der Friede des Landes bei eintretender Noth¬
wendigkeit mit gutem Gewiſſen eingeſetzt werden kann. Man ſollte
ſich jedoch in Wien enthalten, über dieſe Aſſecuranz hinaus An¬
ſprüche aus dem Bündniſſe ableiten zu wollen, für die es nicht
geſchloſſen iſt.

Directe Bedrohung des Friedens zwiſchen Deutſchland und
Rußland iſt kaum auf anderm Wege möglich, als durch künſtliche
Verhetzung oder durch den Ehrgeiz ruſſiſcher oder deutſcher Militärs
von der Art Skobelews, die den Krieg wünſchen, bevor ſie zu alt
werden, um ſich darin auszuzeichnen. Es gehört ein ungewöhnliches
Maß von Dummheit und Verlogenheit in der öffentlichen Meinung
und in der Preſſe Rußlands dazu, um zu glauben und zu be¬
haupten, daß die deutſche Politik von aggreſſiven Tendenzen ge¬
leitet worden ſei, indem ſie das öſtreichiſche und dann das italie¬
niſche Defenſivbündniß abſchloß. Die Verlogenheit war mehr pol¬
niſch-franzöſiſchen, die Dummheit mehr ruſſiſchen Urſprungs. Pol¬
niſch-franzöſiſche Gewandheit hat auf dem Felde der ruſſiſchen
Leichtgläubigkeit und Unwiſſenheit den Sieg über den Mangel ſolcher
Gewandheit davongetragen, in dem je nach den Umſtänden eine
Stärke oder Schwäche der deutſchen Politik liegt. In den meiſten
Fällen iſt eine offne und ehrliche Politik erfolgreicher als die Fein¬
ſpinnerei früherer Zeiten, aber ſie bedarf, wenn ſie gelingen ſoll,
eines Maßes von perſönlichem Vertrauen, das leichter zu verlieren
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[253/0277] Gefahren eines Bruchs mit Rußland. der politiſchen und materiellen Intereſſen erreichen kann, die zwiſchen der Oſtgrenze des rumäniſchen Volksſtammes und der Bucht von Cattaro vorhanden ſind. Aber es iſt nicht die Aufgabe des Deut¬ ſchen Reichs, ſeine Unterthanen mit Gut und Blut zur Verwirk¬ lichung von nachbarlichen Wünſchen herzuleihen. Die Erhaltung der öſtreichiſch-ungariſchen Monarchie als einer unabhängigen ſtarken Großmacht iſt für Deutſchland ein Bedürfniß des Gleichgewichts in Europa, für das der Friede des Landes bei eintretender Noth¬ wendigkeit mit gutem Gewiſſen eingeſetzt werden kann. Man ſollte ſich jedoch in Wien enthalten, über dieſe Aſſecuranz hinaus An¬ ſprüche aus dem Bündniſſe ableiten zu wollen, für die es nicht geſchloſſen iſt. Directe Bedrohung des Friedens zwiſchen Deutſchland und Rußland iſt kaum auf anderm Wege möglich, als durch künſtliche Verhetzung oder durch den Ehrgeiz ruſſiſcher oder deutſcher Militärs von der Art Skobelews, die den Krieg wünſchen, bevor ſie zu alt werden, um ſich darin auszuzeichnen. Es gehört ein ungewöhnliches Maß von Dummheit und Verlogenheit in der öffentlichen Meinung und in der Preſſe Rußlands dazu, um zu glauben und zu be¬ haupten, daß die deutſche Politik von aggreſſiven Tendenzen ge¬ leitet worden ſei, indem ſie das öſtreichiſche und dann das italie¬ niſche Defenſivbündniß abſchloß. Die Verlogenheit war mehr pol¬ niſch-franzöſiſchen, die Dummheit mehr ruſſiſchen Urſprungs. Pol¬ niſch-franzöſiſche Gewandheit hat auf dem Felde der ruſſiſchen Leichtgläubigkeit und Unwiſſenheit den Sieg über den Mangel ſolcher Gewandheit davongetragen, in dem je nach den Umſtänden eine Stärke oder Schwäche der deutſchen Politik liegt. In den meiſten Fällen iſt eine offne und ehrliche Politik erfolgreicher als die Fein¬ ſpinnerei früherer Zeiten, aber ſie bedarf, wenn ſie gelingen ſoll, eines Maßes von perſönlichem Vertrauen, das leichter zu verlieren als zu erwerben iſt. Niemand kann die Zukunft Oeſtreichs an ſich mit der Sicher¬ heit berechnen, die für dauernde und organiſche Verträge erforder¬

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/277>, abgerufen am 25.11.2024.