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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Abneigung Wilhelms I. Tragfähigkeit von Bündnissen.
bedarf, nicht jederzeit in dem vollen Maße des Bedürfnisses rechnen
können.

Schon im vorigen Jahrhundert war es gefährlich, auf die
zwingende Gewalt eines Bündnißtextes zu rechnen, wenn die Ver¬
hältnisse, unter denen er geschrieben war, sich geändert hatten;
heut zu Tage aber ist es für eine große Regirung kaum möglich,
die Kraft ihres Landes für ein andres befreundetes voll ein¬
zusetzen, wenn die Ueberzeugung des Volkes es mißbilligt. Es ge¬
währt deshalb der Wortlaut eines Vertrages dann, wenn er zur
Kriegführung zwingt, nicht mehr die gleichen Bürgschaften wie zur
Zeit der Cabinetskriege, die mit Heeren von 30-60 000 Mann
geführt wurden; ein Familienkrieg, wie ihn Friedrich Wilhelm II.
für seinen Schwager in Holland führte, ist heut schwer in Scene
zu setzen, und für einen Krieg, wie Nicolaus ihn 1849 in Ungarn
führte, finden sich die Vorbedingungen nicht leicht wieder. In¬
dessen ist auf die Diplomatie in den Momenten, wo es sich darum
handelt, einen Krieg herbeizuführen oder zu vermeiden, der Wort¬
laut eines klaren und tiefgreifenden Vertrages nicht ohne Einfluß.
Die Bereitwilligkeit zum zweifellosen Wortbruch pflegt auch bei
sophistischen und gewaltthätigen Regirungen nicht vorhanden zu
sein, so lange nicht die force majeure unabweislicher Interessen
eintritt.

Alle Erwägungen und Argumente, die ich dem in Baden be¬
findlichen Kaiser schriftlich aus Gastein, aus Wien und demnächst
aus Berlin unterbreitete, waren ohne die gewünschte Wirkung. Um
die Zustimmung des Kaisers zu dem von mir mit Andrassy ver¬
einbarten und von dem Kaiser Franz Joseph unter der Voraus¬
setzung, daß Kaiser Wilhelm dasselbe thun würde, genehmigten
Vertragsentwurfe herbeizuführen, war ich genöthigt, zu dem für
mich sehr peinlichen Mittel der Cabinetsfrage zu greifen, und es
gelang mir, meine Collegen für mein Vorhaben zu gewinnen. Da
ich selbst von den Anstrengungen der letzten Wochen und von der
Unterbrechung der Gasteiner Cur zu angegriffen war, um die

Abneigung Wilhelms I. Tragfähigkeit von Bündniſſen.
bedarf, nicht jederzeit in dem vollen Maße des Bedürfniſſes rechnen
können.

Schon im vorigen Jahrhundert war es gefährlich, auf die
zwingende Gewalt eines Bündnißtextes zu rechnen, wenn die Ver¬
hältniſſe, unter denen er geſchrieben war, ſich geändert hatten;
heut zu Tage aber iſt es für eine große Regirung kaum möglich,
die Kraft ihres Landes für ein andres befreundetes voll ein¬
zuſetzen, wenn die Ueberzeugung des Volkes es mißbilligt. Es ge¬
währt deshalb der Wortlaut eines Vertrages dann, wenn er zur
Kriegführung zwingt, nicht mehr die gleichen Bürgſchaften wie zur
Zeit der Cabinetskriege, die mit Heeren von 30–60 000 Mann
geführt wurden; ein Familienkrieg, wie ihn Friedrich Wilhelm II.
für ſeinen Schwager in Holland führte, iſt heut ſchwer in Scene
zu ſetzen, und für einen Krieg, wie Nicolaus ihn 1849 in Ungarn
führte, finden ſich die Vorbedingungen nicht leicht wieder. In¬
deſſen iſt auf die Diplomatie in den Momenten, wo es ſich darum
handelt, einen Krieg herbeizuführen oder zu vermeiden, der Wort¬
laut eines klaren und tiefgreifenden Vertrages nicht ohne Einfluß.
Die Bereitwilligkeit zum zweifelloſen Wortbruch pflegt auch bei
ſophiſtiſchen und gewaltthätigen Regirungen nicht vorhanden zu
ſein, ſo lange nicht die force majeure unabweislicher Intereſſen
eintritt.

Alle Erwägungen und Argumente, die ich dem in Baden be¬
findlichen Kaiſer ſchriftlich aus Gaſtein, aus Wien und demnächſt
aus Berlin unterbreitete, waren ohne die gewünſchte Wirkung. Um
die Zuſtimmung des Kaiſers zu dem von mir mit Andraſſy ver¬
einbarten und von dem Kaiſer Franz Joſeph unter der Voraus¬
ſetzung, daß Kaiſer Wilhelm daſſelbe thun würde, genehmigten
Vertragsentwurfe herbeizuführen, war ich genöthigt, zu dem für
mich ſehr peinlichen Mittel der Cabinetsfrage zu greifen, und es
gelang mir, meine Collegen für mein Vorhaben zu gewinnen. Da
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[247/0271] Abneigung Wilhelms I. Tragfähigkeit von Bündniſſen. bedarf, nicht jederzeit in dem vollen Maße des Bedürfniſſes rechnen können. Schon im vorigen Jahrhundert war es gefährlich, auf die zwingende Gewalt eines Bündnißtextes zu rechnen, wenn die Ver¬ hältniſſe, unter denen er geſchrieben war, ſich geändert hatten; heut zu Tage aber iſt es für eine große Regirung kaum möglich, die Kraft ihres Landes für ein andres befreundetes voll ein¬ zuſetzen, wenn die Ueberzeugung des Volkes es mißbilligt. Es ge¬ währt deshalb der Wortlaut eines Vertrages dann, wenn er zur Kriegführung zwingt, nicht mehr die gleichen Bürgſchaften wie zur Zeit der Cabinetskriege, die mit Heeren von 30–60 000 Mann geführt wurden; ein Familienkrieg, wie ihn Friedrich Wilhelm II. für ſeinen Schwager in Holland führte, iſt heut ſchwer in Scene zu ſetzen, und für einen Krieg, wie Nicolaus ihn 1849 in Ungarn führte, finden ſich die Vorbedingungen nicht leicht wieder. In¬ deſſen iſt auf die Diplomatie in den Momenten, wo es ſich darum handelt, einen Krieg herbeizuführen oder zu vermeiden, der Wort¬ laut eines klaren und tiefgreifenden Vertrages nicht ohne Einfluß. Die Bereitwilligkeit zum zweifelloſen Wortbruch pflegt auch bei ſophiſtiſchen und gewaltthätigen Regirungen nicht vorhanden zu ſein, ſo lange nicht die force majeure unabweislicher Intereſſen eintritt. Alle Erwägungen und Argumente, die ich dem in Baden be¬ findlichen Kaiſer ſchriftlich aus Gaſtein, aus Wien und demnächſt aus Berlin unterbreitete, waren ohne die gewünſchte Wirkung. Um die Zuſtimmung des Kaiſers zu dem von mir mit Andraſſy ver¬ einbarten und von dem Kaiſer Franz Joſeph unter der Voraus¬ ſetzung, daß Kaiſer Wilhelm daſſelbe thun würde, genehmigten Vertragsentwurfe herbeizuführen, war ich genöthigt, zu dem für mich ſehr peinlichen Mittel der Cabinetsfrage zu greifen, und es gelang mir, meine Collegen für mein Vorhaben zu gewinnen. Da ich ſelbſt von den Anſtrengungen der letzten Wochen und von der Unterbrechung der Gaſteiner Cur zu angegriffen war, um die

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/271>, abgerufen am 25.11.2024.