Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

Abschluß des Defensivbundes mit Oestreich.
werth wäre. Die russischen Bestrebungen sind unruhig und friedlos
geblieben; der Einfluß des panslavistischen Chauvinismus auf die
Stimmungen des Kaisers Alexander hat sich gesteigert, und mit der,
wie es leider scheint, ernstlichen Ungnade des Grafen Schuwalow
hat dessen Werk, der Berliner Congreß, seine Verurtheilung durch
den Kaiser erfahren. Der leitende Minister, insoweit es einen
solchen in Rußland gegenwärtig giebt, ist der Kriegsminister Milutin.
Auf sein Verlangen sind jetzt nach dem Frieden, wo Rußland
von niemand bedroht ist, die gewaltigen Rüstungen erfolgt, welche
trotz der Finanzopfer des Krieges den Friedensstand des russischen
Heeres um 56000, den Stand der mobilen westlichen Kriegs¬
armee um fast 400000 Mann steigerten. Diese Rüstungen können
nur gegen Oestreich oder Deutschland bestimmt sein, und die Truppen¬
aufstellungen im Königreich Polen entsprechen einer solchen Be¬
stimmung. Der Kriegsminister hat auch den technischen Com¬
missionen*) gegenüber rückhaltlos geäußert, daß Rußland sich auf
einen Krieg ,mit Europa' einrichten müsse.

Wenn es zweifellos ist, daß der Kaiser Alexander, ohne den
Türkenkrieg zu wollen, unter dem Drucke der panslavistischen Ein¬
flüsse denselben dennoch geführt hat, und wenn inzwischen dieselbe
Partei ihren Einfluß dadurch gesteigert hat, daß dem Kaiser die
Agitation, welche hinter ihr steht, heut mehr und gefährlicheren
Eindruck macht als früher, so liegt die Befürchtung nahe, daß es
ihr ebenso gelingen kann, die Unterschrift des Kaisers Alexander für
weitre kriegerische Unternehmungen nach Westen zu gewinnen. Die
europäischen Schwierigkeiten, welchen Rußland auf diesem Wege be¬
gegnen könnte, können einen Minister wie Milutin oder Makoff
wenig schrecken, wenn es wahr ist, was die Conservativen in Ru߬
land befürchten, daß die Bewegungspartei, indem sie Rußland in
schwere Kriege zu verwickeln sucht, weniger einen Sieg Rußlands
über das Ausland, als einen Umsturz im Innern Rußlands erstrebt.

*) Welche gewisse Bestimmungen des Berliner Vertrages vom 13. Juli
1878 auszuführen hatten.

Abſchluß des Defenſivbundes mit Oeſtreich.
werth wäre. Die ruſſiſchen Beſtrebungen ſind unruhig und friedlos
geblieben; der Einfluß des panſlaviſtiſchen Chauvinismus auf die
Stimmungen des Kaiſers Alexander hat ſich geſteigert, und mit der,
wie es leider ſcheint, ernſtlichen Ungnade des Grafen Schuwalow
hat deſſen Werk, der Berliner Congreß, ſeine Verurtheilung durch
den Kaiſer erfahren. Der leitende Miniſter, inſoweit es einen
ſolchen in Rußland gegenwärtig giebt, iſt der Kriegsminiſter Milutin.
Auf ſein Verlangen ſind jetzt nach dem Frieden, wo Rußland
von niemand bedroht iſt, die gewaltigen Rüſtungen erfolgt, welche
trotz der Finanzopfer des Krieges den Friedensſtand des ruſſiſchen
Heeres um 56000, den Stand der mobilen weſtlichen Kriegs¬
armee um faſt 400000 Mann ſteigerten. Dieſe Rüſtungen können
nur gegen Oeſtreich oder Deutſchland beſtimmt ſein, und die Truppen¬
aufſtellungen im Königreich Polen entſprechen einer ſolchen Be¬
ſtimmung. Der Kriegsminiſter hat auch den techniſchen Com¬
miſſionen*) gegenüber rückhaltlos geäußert, daß Rußland ſich auf
einen Krieg ,mit Europa‘ einrichten müſſe.

Wenn es zweifellos iſt, daß der Kaiſer Alexander, ohne den
Türkenkrieg zu wollen, unter dem Drucke der panſlaviſtiſchen Ein¬
flüſſe denſelben dennoch geführt hat, und wenn inzwiſchen dieſelbe
Partei ihren Einfluß dadurch geſteigert hat, daß dem Kaiſer die
Agitation, welche hinter ihr ſteht, heut mehr und gefährlicheren
Eindruck macht als früher, ſo liegt die Befürchtung nahe, daß es
ihr ebenſo gelingen kann, die Unterſchrift des Kaiſers Alexander für
weitre kriegeriſche Unternehmungen nach Weſten zu gewinnen. Die
europäiſchen Schwierigkeiten, welchen Rußland auf dieſem Wege be¬
gegnen könnte, können einen Miniſter wie Milutin oder Makoff
wenig ſchrecken, wenn es wahr iſt, was die Conſervativen in Ru߬
land befürchten, daß die Bewegungspartei, indem ſie Rußland in
ſchwere Kriege zu verwickeln ſucht, weniger einen Sieg Rußlands
über das Ausland, als einen Umſturz im Innern Rußlands erſtrebt.

*) Welche gewiſſe Beſtimmungen des Berliner Vertrages vom 13. Juli
1878 auszuführen hatten.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0263" n="239"/><fw place="top" type="header">Ab&#x017F;chluß des Defen&#x017F;ivbundes mit Oe&#x017F;treich.<lb/></fw> werth wäre. Die ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Be&#x017F;trebungen &#x017F;ind unruhig und friedlos<lb/>
geblieben; der Einfluß des pan&#x017F;lavi&#x017F;ti&#x017F;chen Chauvinismus auf die<lb/>
Stimmungen des Kai&#x017F;ers Alexander hat &#x017F;ich ge&#x017F;teigert, und mit der,<lb/>
wie es leider &#x017F;cheint, ern&#x017F;tlichen Ungnade des Grafen Schuwalow<lb/>
hat de&#x017F;&#x017F;en Werk, der Berliner Congreß, &#x017F;eine Verurtheilung durch<lb/>
den Kai&#x017F;er erfahren. Der leitende Mini&#x017F;ter, in&#x017F;oweit es einen<lb/>
&#x017F;olchen in Rußland gegenwärtig giebt, i&#x017F;t der Kriegsmini&#x017F;ter Milutin.<lb/>
Auf &#x017F;ein Verlangen &#x017F;ind jetzt nach dem Frieden, wo Rußland<lb/>
von niemand bedroht i&#x017F;t, die gewaltigen Rü&#x017F;tungen erfolgt, welche<lb/>
trotz der Finanzopfer des Krieges den Friedens&#x017F;tand des ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Heeres um 56000, den Stand der <hi rendition="#g">mobilen we&#x017F;tlichen</hi> Kriegs¬<lb/>
armee um fa&#x017F;t 400000 Mann &#x017F;teigerten. Die&#x017F;e Rü&#x017F;tungen können<lb/>
nur gegen Oe&#x017F;treich oder Deut&#x017F;chland be&#x017F;timmt &#x017F;ein, und die Truppen¬<lb/>
auf&#x017F;tellungen im Königreich Polen ent&#x017F;prechen einer &#x017F;olchen Be¬<lb/>
&#x017F;timmung. Der Kriegsmini&#x017F;ter hat auch den techni&#x017F;chen Com¬<lb/>
mi&#x017F;&#x017F;ionen<note place="foot" n="*)">Welche gewi&#x017F;&#x017F;e Be&#x017F;timmungen des Berliner Vertrages vom 13. Juli<lb/>
1878 auszuführen hatten.</note> gegenüber rückhaltlos geäußert, daß Rußland &#x017F;ich auf<lb/>
einen Krieg ,mit Europa&#x2018; einrichten mü&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
          <p>Wenn es zweifellos i&#x017F;t, daß der Kai&#x017F;er Alexander, ohne den<lb/>
Türkenkrieg zu wollen, unter dem Drucke der pan&#x017F;lavi&#x017F;ti&#x017F;chen Ein¬<lb/>
flü&#x017F;&#x017F;e den&#x017F;elben dennoch geführt hat, und wenn inzwi&#x017F;chen die&#x017F;elbe<lb/>
Partei ihren Einfluß dadurch ge&#x017F;teigert hat, daß dem Kai&#x017F;er die<lb/>
Agitation, welche hinter ihr &#x017F;teht, heut mehr und gefährlicheren<lb/>
Eindruck macht als früher, &#x017F;o liegt die Befürchtung nahe, daß es<lb/>
ihr eben&#x017F;o gelingen kann, die Unter&#x017F;chrift des Kai&#x017F;ers Alexander für<lb/>
weitre kriegeri&#x017F;che Unternehmungen nach We&#x017F;ten zu gewinnen. Die<lb/>
europäi&#x017F;chen Schwierigkeiten, welchen Rußland auf die&#x017F;em Wege be¬<lb/>
gegnen könnte, können einen Mini&#x017F;ter wie Milutin oder Makoff<lb/>
wenig &#x017F;chrecken, wenn es wahr i&#x017F;t, was die Con&#x017F;ervativen in Ru߬<lb/>
land befürchten, daß die Bewegungspartei, indem &#x017F;ie Rußland in<lb/>
&#x017F;chwere Kriege zu verwickeln &#x017F;ucht, weniger einen Sieg Rußlands<lb/>
über das Ausland, als einen Um&#x017F;turz im Innern Rußlands er&#x017F;trebt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[239/0263] Abſchluß des Defenſivbundes mit Oeſtreich. werth wäre. Die ruſſiſchen Beſtrebungen ſind unruhig und friedlos geblieben; der Einfluß des panſlaviſtiſchen Chauvinismus auf die Stimmungen des Kaiſers Alexander hat ſich geſteigert, und mit der, wie es leider ſcheint, ernſtlichen Ungnade des Grafen Schuwalow hat deſſen Werk, der Berliner Congreß, ſeine Verurtheilung durch den Kaiſer erfahren. Der leitende Miniſter, inſoweit es einen ſolchen in Rußland gegenwärtig giebt, iſt der Kriegsminiſter Milutin. Auf ſein Verlangen ſind jetzt nach dem Frieden, wo Rußland von niemand bedroht iſt, die gewaltigen Rüſtungen erfolgt, welche trotz der Finanzopfer des Krieges den Friedensſtand des ruſſiſchen Heeres um 56000, den Stand der mobilen weſtlichen Kriegs¬ armee um faſt 400000 Mann ſteigerten. Dieſe Rüſtungen können nur gegen Oeſtreich oder Deutſchland beſtimmt ſein, und die Truppen¬ aufſtellungen im Königreich Polen entſprechen einer ſolchen Be¬ ſtimmung. Der Kriegsminiſter hat auch den techniſchen Com¬ miſſionen *) gegenüber rückhaltlos geäußert, daß Rußland ſich auf einen Krieg ,mit Europa‘ einrichten müſſe. Wenn es zweifellos iſt, daß der Kaiſer Alexander, ohne den Türkenkrieg zu wollen, unter dem Drucke der panſlaviſtiſchen Ein¬ flüſſe denſelben dennoch geführt hat, und wenn inzwiſchen dieſelbe Partei ihren Einfluß dadurch geſteigert hat, daß dem Kaiſer die Agitation, welche hinter ihr ſteht, heut mehr und gefährlicheren Eindruck macht als früher, ſo liegt die Befürchtung nahe, daß es ihr ebenſo gelingen kann, die Unterſchrift des Kaiſers Alexander für weitre kriegeriſche Unternehmungen nach Weſten zu gewinnen. Die europäiſchen Schwierigkeiten, welchen Rußland auf dieſem Wege be¬ gegnen könnte, können einen Miniſter wie Milutin oder Makoff wenig ſchrecken, wenn es wahr iſt, was die Conſervativen in Ru߬ land befürchten, daß die Bewegungspartei, indem ſie Rußland in ſchwere Kriege zu verwickeln ſucht, weniger einen Sieg Rußlands über das Ausland, als einen Umſturz im Innern Rußlands erſtrebt. *) Welche gewiſſe Beſtimmungen des Berliner Vertrages vom 13. Juli 1878 auszuführen hatten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/263
Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/263>, abgerufen am 28.11.2024.