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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Neunundzwanzigstes Kapitel: Der Dreibund.
die Möglichkeit der antideutschen Coalition durch vertragsmäßige
Sicherstellung der Beziehungen zu wenigstens einer der Gro߬
mächte einzuschränken. Die Wahl konnte nur zwischen Oestreich
und Rußland stehn, da die englische Verfassung Bündnisse von
gesicherter Dauer nicht zuläßt und die Verbindung mit Italien
allein ein hinreichendes Gegengewicht gegen eine Coalition der drei
übrigen Großmächte auch dann nicht gewährte, wenn die zukünftige
Haltung und Gestaltung Italiens nicht nur von Frankreich, sondern
auch von Oestreich unabhängig gedacht wurde. Es blieb, um
das Feld der Coalitionsbildung zu verkleinern, nur die bezeich¬
nete Wahl.

Für materiell stärker hielt ich die Verbindung mit Rußland.
Sie hatte mir früher auch als sichrer gegolten, weil ich die tradi¬
tionelle dynastische Freundschaft, die Gemeinsamkeit des monarchi¬
schen Erhaltungstriebes und die Abwesenheit aller eingebornen
Gegensätze in der Politik für sichrer hielt als die wandelbaren
Eindrücke der öffentlichen Meinung in der ungarischen, slavischen
und katholischen Bevölkerung der habsburgischen Monarchie. Absolut
sicher für die Dauer war keine der beiden Verbindungen, weder
das dynastische Band mit Rußland, noch das populäre ungarisch-
deutscher Sympathie. Wenn in Ungarn stets die besonnene poli¬
tische Erwägung den Ausschlag gäbe, so würde diese tapfere und
unabhängige Nation sich darüber klar bleiben, daß sie als Insel
in dem weiten Meere slavischer Bevölkerungen sich bei ihrer ver¬
hältnißmäßig geringen Ziffer nur durch Anlehnung an das deutsche
Element in Oestreich und in Deutschland sicher stellen kann. Aber
die Kossuthsche Episode und die Unterdrückung der reichstreuen
deutschen Elemente in Ungarn selbst und andre Symptome zeigten,
daß in kritischen Momenten das Selbstvertrauen des ungarischen
Husaren und Advocaten stärker ist als die politische Berechnung
und die Selbstbeherrschung. Läßt doch auch in ruhigen Zeiten
mancher Magyar sich von den Zigeunern das Lied "Der Deutsche
ist ein Hundsfott" aufspielen!

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
die Möglichkeit der antideutſchen Coalition durch vertragsmäßige
Sicherſtellung der Beziehungen zu wenigſtens einer der Gro߬
mächte einzuſchränken. Die Wahl konnte nur zwiſchen Oeſtreich
und Rußland ſtehn, da die engliſche Verfaſſung Bündniſſe von
geſicherter Dauer nicht zuläßt und die Verbindung mit Italien
allein ein hinreichendes Gegengewicht gegen eine Coalition der drei
übrigen Großmächte auch dann nicht gewährte, wenn die zukünftige
Haltung und Geſtaltung Italiens nicht nur von Frankreich, ſondern
auch von Oeſtreich unabhängig gedacht wurde. Es blieb, um
das Feld der Coalitionsbildung zu verkleinern, nur die bezeich¬
nete Wahl.

Für materiell ſtärker hielt ich die Verbindung mit Rußland.
Sie hatte mir früher auch als ſichrer gegolten, weil ich die tradi¬
tionelle dynaſtiſche Freundſchaft, die Gemeinſamkeit des monarchi¬
ſchen Erhaltungstriebes und die Abweſenheit aller eingebornen
Gegenſätze in der Politik für ſichrer hielt als die wandelbaren
Eindrücke der öffentlichen Meinung in der ungariſchen, ſlaviſchen
und katholiſchen Bevölkerung der habsburgiſchen Monarchie. Abſolut
ſicher für die Dauer war keine der beiden Verbindungen, weder
das dynaſtiſche Band mit Rußland, noch das populäre ungariſch-
deutſcher Sympathie. Wenn in Ungarn ſtets die beſonnene poli¬
tiſche Erwägung den Ausſchlag gäbe, ſo würde dieſe tapfere und
unabhängige Nation ſich darüber klar bleiben, daß ſie als Inſel
in dem weiten Meere ſlaviſcher Bevölkerungen ſich bei ihrer ver¬
hältnißmäßig geringen Ziffer nur durch Anlehnung an das deutſche
Element in Oeſtreich und in Deutſchland ſicher ſtellen kann. Aber
die Koſſuthſche Epiſode und die Unterdrückung der reichstreuen
deutſchen Elemente in Ungarn ſelbſt und andre Symptome zeigten,
daß in kritiſchen Momenten das Selbſtvertrauen des ungariſchen
Huſaren und Advocaten ſtärker iſt als die politiſche Berechnung
und die Selbſtbeherrſchung. Läßt doch auch in ruhigen Zeiten
mancher Magyar ſich von den Zigeunern das Lied „Der Deutſche
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[234/0258] Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund. die Möglichkeit der antideutſchen Coalition durch vertragsmäßige Sicherſtellung der Beziehungen zu wenigſtens einer der Gro߬ mächte einzuſchränken. Die Wahl konnte nur zwiſchen Oeſtreich und Rußland ſtehn, da die engliſche Verfaſſung Bündniſſe von geſicherter Dauer nicht zuläßt und die Verbindung mit Italien allein ein hinreichendes Gegengewicht gegen eine Coalition der drei übrigen Großmächte auch dann nicht gewährte, wenn die zukünftige Haltung und Geſtaltung Italiens nicht nur von Frankreich, ſondern auch von Oeſtreich unabhängig gedacht wurde. Es blieb, um das Feld der Coalitionsbildung zu verkleinern, nur die bezeich¬ nete Wahl. Für materiell ſtärker hielt ich die Verbindung mit Rußland. Sie hatte mir früher auch als ſichrer gegolten, weil ich die tradi¬ tionelle dynaſtiſche Freundſchaft, die Gemeinſamkeit des monarchi¬ ſchen Erhaltungstriebes und die Abweſenheit aller eingebornen Gegenſätze in der Politik für ſichrer hielt als die wandelbaren Eindrücke der öffentlichen Meinung in der ungariſchen, ſlaviſchen und katholiſchen Bevölkerung der habsburgiſchen Monarchie. Abſolut ſicher für die Dauer war keine der beiden Verbindungen, weder das dynaſtiſche Band mit Rußland, noch das populäre ungariſch- deutſcher Sympathie. Wenn in Ungarn ſtets die beſonnene poli¬ tiſche Erwägung den Ausſchlag gäbe, ſo würde dieſe tapfere und unabhängige Nation ſich darüber klar bleiben, daß ſie als Inſel in dem weiten Meere ſlaviſcher Bevölkerungen ſich bei ihrer ver¬ hältnißmäßig geringen Ziffer nur durch Anlehnung an das deutſche Element in Oeſtreich und in Deutſchland ſicher ſtellen kann. Aber die Koſſuthſche Epiſode und die Unterdrückung der reichstreuen deutſchen Elemente in Ungarn ſelbſt und andre Symptome zeigten, daß in kritiſchen Momenten das Selbſtvertrauen des ungariſchen Huſaren und Advocaten ſtärker iſt als die politiſche Berechnung und die Selbſtbeherrſchung. Läßt doch auch in ruhigen Zeiten mancher Magyar ſich von den Zigeunern das Lied „Der Deutſche iſt ein Hundsfott“ aufſpielen!

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/258>, abgerufen am 23.11.2024.