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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Neunundzwanzigstes Kapitel: Der Dreibund.
für das Bedürfniß des Zusammenhaltens im Interesse staatlicher
und gesellschaftlicher Ordnung kein Verständniß haben, sondern sich
chauvinistischen Regungen ihrer Unterthanen dienstbar machen, so
befürchte ich, daß die internationalen revolutionären und socialen
Kämpfe, die auszufechten sein werden, um so gefährlicher und
für den Sieg der monarchischen Ordnung schwieriger sich gestalten
werden. Ich habe die nächstliegende Assecuranz gegen diese Kämpfe
seit 1871 in dem Dreikaiserbunde und in dem Bestreben gesucht,
dem monarchischen Prinzipe in Italien eine feste Anlehnung an
diesen Bund zu gewähren. Ich war nicht ohne Hoffnung auf einen
dauernden Erfolg, als im September 1872 die Zusammenkunft
der drei Kaiser in Berlin, demnächst die Besuche meines Kaisers
in Petersburg im Mai, des Königs von Italien in Berlin im
September, des deutschen Kaisers in Wien im October des folgenden
Jahres stattfanden. Die erste Trübung dieser Hoffnung wurde
1875 verursacht durch die Hetzereien des Fürsten Gortschakow1),
der die Lüge verbreitete, daß wir Frankreich, bevor es sich von seinen
Wunden erholt hätte, zu überfallen beabsichtigten.

Ich bin zur Zeit der Luxemburger Frage (1867) ein grund¬
sätzlicher Gegner von Präventivkriegen gewesen, d. h. von An¬
griffskriegen, die wir um deshalb führen würden, weil wir ver¬
mutheten, daß wir sie später mit dem besser gerüsteten Feinde zu
bestehn haben würden. Daß wir 1875 Frankreich besiegt haben
würden, war nach der Ansicht unsrer Militärs wahrscheinlich; aber
nicht so wahrscheinlich war es, daß die übrigen Mächte neutral
geblieben sein würden. Wenn schon in den letzten Monaten vor
den Versailler Verhandlungen die Gefahr europäischer Einmischung
mich täglich beängstigte, so würde die scheinbare Gehässigkeit eines
Angriffs, den wir unternommen hätten, nur um Frankreich nicht
wieder zu Athem kommen zu lassen, einen willkommnen Vorwand
zunächst für englische Humanitätsphrasen geboten haben, dann aber

1) Kap. 26, s. o. S. 174.

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
für das Bedürfniß des Zuſammenhaltens im Intereſſe ſtaatlicher
und geſellſchaftlicher Ordnung kein Verſtändniß haben, ſondern ſich
chauviniſtiſchen Regungen ihrer Unterthanen dienſtbar machen, ſo
befürchte ich, daß die internationalen revolutionären und ſocialen
Kämpfe, die auszufechten ſein werden, um ſo gefährlicher und
für den Sieg der monarchiſchen Ordnung ſchwieriger ſich geſtalten
werden. Ich habe die nächſtliegende Aſſecuranz gegen dieſe Kämpfe
ſeit 1871 in dem Dreikaiſerbunde und in dem Beſtreben geſucht,
dem monarchiſchen Prinzipe in Italien eine feſte Anlehnung an
dieſen Bund zu gewähren. Ich war nicht ohne Hoffnung auf einen
dauernden Erfolg, als im September 1872 die Zuſammenkunft
der drei Kaiſer in Berlin, demnächſt die Beſuche meines Kaiſers
in Petersburg im Mai, des Königs von Italien in Berlin im
September, des deutſchen Kaiſers in Wien im October des folgenden
Jahres ſtattfanden. Die erſte Trübung dieſer Hoffnung wurde
1875 verurſacht durch die Hetzereien des Fürſten Gortſchakow1),
der die Lüge verbreitete, daß wir Frankreich, bevor es ſich von ſeinen
Wunden erholt hätte, zu überfallen beabſichtigten.

Ich bin zur Zeit der Luxemburger Frage (1867) ein grund¬
ſätzlicher Gegner von Präventivkriegen geweſen, d. h. von An¬
griffskriegen, die wir um deshalb führen würden, weil wir ver¬
mutheten, daß wir ſie ſpäter mit dem beſſer gerüſteten Feinde zu
beſtehn haben würden. Daß wir 1875 Frankreich beſiegt haben
würden, war nach der Anſicht unſrer Militärs wahrſcheinlich; aber
nicht ſo wahrſcheinlich war es, daß die übrigen Mächte neutral
geblieben ſein würden. Wenn ſchon in den letzten Monaten vor
den Verſailler Verhandlungen die Gefahr europäiſcher Einmiſchung
mich täglich beängſtigte, ſo würde die ſcheinbare Gehäſſigkeit eines
Angriffs, den wir unternommen hätten, nur um Frankreich nicht
wieder zu Athem kommen zu laſſen, einen willkommnen Vorwand
zunächſt für engliſche Humanitätsphraſen geboten haben, dann aber

1) Kap. 26, ſ. o. S. 174.
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[230/0254] Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund. für das Bedürfniß des Zuſammenhaltens im Intereſſe ſtaatlicher und geſellſchaftlicher Ordnung kein Verſtändniß haben, ſondern ſich chauviniſtiſchen Regungen ihrer Unterthanen dienſtbar machen, ſo befürchte ich, daß die internationalen revolutionären und ſocialen Kämpfe, die auszufechten ſein werden, um ſo gefährlicher und für den Sieg der monarchiſchen Ordnung ſchwieriger ſich geſtalten werden. Ich habe die nächſtliegende Aſſecuranz gegen dieſe Kämpfe ſeit 1871 in dem Dreikaiſerbunde und in dem Beſtreben geſucht, dem monarchiſchen Prinzipe in Italien eine feſte Anlehnung an dieſen Bund zu gewähren. Ich war nicht ohne Hoffnung auf einen dauernden Erfolg, als im September 1872 die Zuſammenkunft der drei Kaiſer in Berlin, demnächſt die Beſuche meines Kaiſers in Petersburg im Mai, des Königs von Italien in Berlin im September, des deutſchen Kaiſers in Wien im October des folgenden Jahres ſtattfanden. Die erſte Trübung dieſer Hoffnung wurde 1875 verurſacht durch die Hetzereien des Fürſten Gortſchakow 1), der die Lüge verbreitete, daß wir Frankreich, bevor es ſich von ſeinen Wunden erholt hätte, zu überfallen beabſichtigten. Ich bin zur Zeit der Luxemburger Frage (1867) ein grund¬ ſätzlicher Gegner von Präventivkriegen geweſen, d. h. von An¬ griffskriegen, die wir um deshalb führen würden, weil wir ver¬ mutheten, daß wir ſie ſpäter mit dem beſſer gerüſteten Feinde zu beſtehn haben würden. Daß wir 1875 Frankreich beſiegt haben würden, war nach der Anſicht unſrer Militärs wahrſcheinlich; aber nicht ſo wahrſcheinlich war es, daß die übrigen Mächte neutral geblieben ſein würden. Wenn ſchon in den letzten Monaten vor den Verſailler Verhandlungen die Gefahr europäiſcher Einmiſchung mich täglich beängſtigte, ſo würde die ſcheinbare Gehäſſigkeit eines Angriffs, den wir unternommen hätten, nur um Frankreich nicht wieder zu Athem kommen zu laſſen, einen willkommnen Vorwand zunächſt für engliſche Humanitätsphraſen geboten haben, dann aber 1) Kap. 26, ſ. o. S. 174.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/254>, abgerufen am 22.11.2024.