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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Unehrliche Politik Gortschakows. Russische Kriegsdrohung.
Interesse nicht berührten. Die leidenschaftliche Bitterkeit der Sprache
aller russischen Organe, die durch die Censur autorisirte Verhetzung
der russischen Volksstimmung gegen uns ließ es dann gerathen
erscheinen, die Sympathien, die wir bei nichtrussischen Mächten
noch haben konnten, uns nicht zu entfremden.

In dieser Situation nun kam ein eigenhändiges Schreiben des
Kaisers Alexander, das trotz aller Verehrung für den bejahrten
Freund und Oheim an zwei Stellen bestimmte Kriegsdrohungen
enthielt in der Form, die völkerrechtlich üblich ist, etwa des In¬
halts: wenn die Weigerung, das deutsche Votum dem russischen
anzupassen, festgehalten wird, so kann der Friede zwischen uns nicht
dauern. Dieses Thema war in scharfen und unzweideutigen Worten
an zwei Stellen variirt. Daß Fürst Gortschakow, der am 6. Sep¬
tember 1879 in einem Interview mit dem Correspondenten des
orleanistischen "Soleil", Louis Peyramont, Frankreich eine sehr auf¬
fallende Liebeserklärung machte, auch an jenem Schreiben mitge¬
arbeitet hatte, sah ich dem letztern an; durch zwei spätre Wahr¬
nehmungen wurde meine Vermuthung bestätigt. Im October hörte
eine Dame der Berliner Gesellschaft, die in dem Hotel de l'Eu¬
rope
in Baden-Baden Zimmernachbarin Gortschakows war, ihn
sagen: "j'aurais voulu faire la guerre, mais la France a
d'autres intentions."
Und am 1. November war der Pariser
Correspondent der "Times" in der Lage, seinem Blatte zu melden,
vor der Zusammenkunft in Alexandrowo habe der Zar an Kaiser
Wilhelm geschrieben, sich über die Haltung Deutschlands beschwert
und sich der Phrase bedient: "Der Kanzler Ew. Majestät hat die
Versprechungen von 1870 vergessen"*).

*) Der Correspondent, Herr Oppert aus Blowitz in Böhmen, wird die
Verbreitung dieser ihm doch wohl von Gortschakow zugegangenen Nachricht um
so bereitwilliger übernommen haben, als er mir von dem Congreß her grollte.
Auf den Wunsch Beaconsfields, der ihn bei guter Laune erhalten wollte, hatte
ich ihm die dritte Classe des Kronenordens verschafft. Er war über die nach
preußischen Begriffen ungewöhnlich hoch gegriffene Auszeichnung entrüstet,
lehnte sie ab und verlangte die zweite Classe.

Unehrliche Politik Gortſchakows. Ruſſiſche Kriegsdrohung.
Intereſſe nicht berührten. Die leidenſchaftliche Bitterkeit der Sprache
aller ruſſiſchen Organe, die durch die Cenſur autoriſirte Verhetzung
der ruſſiſchen Volksſtimmung gegen uns ließ es dann gerathen
erſcheinen, die Sympathien, die wir bei nichtruſſiſchen Mächten
noch haben konnten, uns nicht zu entfremden.

In dieſer Situation nun kam ein eigenhändiges Schreiben des
Kaiſers Alexander, das trotz aller Verehrung für den bejahrten
Freund und Oheim an zwei Stellen beſtimmte Kriegsdrohungen
enthielt in der Form, die völkerrechtlich üblich iſt, etwa des In¬
halts: wenn die Weigerung, das deutſche Votum dem ruſſiſchen
anzupaſſen, feſtgehalten wird, ſo kann der Friede zwiſchen uns nicht
dauern. Dieſes Thema war in ſcharfen und unzweideutigen Worten
an zwei Stellen variirt. Daß Fürſt Gortſchakow, der am 6. Sep¬
tember 1879 in einem Interview mit dem Correſpondenten des
orleaniſtiſchen „Soleil“, Louis Peyramont, Frankreich eine ſehr auf¬
fallende Liebeserklärung machte, auch an jenem Schreiben mitge¬
arbeitet hatte, ſah ich dem letztern an; durch zwei ſpätre Wahr¬
nehmungen wurde meine Vermuthung beſtätigt. Im October hörte
eine Dame der Berliner Geſellſchaft, die in dem Hôtel de l'Eu¬
rope
in Baden-Baden Zimmernachbarin Gortſchakows war, ihn
ſagen: „j'aurais voulu faire la guerre, mais la France a
d'autres intentions.“
Und am 1. November war der Pariſer
Correſpondent der „Times“ in der Lage, ſeinem Blatte zu melden,
vor der Zuſammenkunft in Alexandrowo habe der Zar an Kaiſer
Wilhelm geſchrieben, ſich über die Haltung Deutſchlands beſchwert
und ſich der Phraſe bedient: „Der Kanzler Ew. Majeſtät hat die
Verſprechungen von 1870 vergeſſen“*).

*) Der Correſpondent, Herr Oppert aus Blowitz in Böhmen, wird die
Verbreitung dieſer ihm doch wohl von Gortſchakow zugegangenen Nachricht um
ſo bereitwilliger übernommen haben, als er mir von dem Congreß her grollte.
Auf den Wunſch Beaconsfields, der ihn bei guter Laune erhalten wollte, hatte
ich ihm die dritte Claſſe des Kronenordens verſchafft. Er war über die nach
preußiſchen Begriffen ungewöhnlich hoch gegriffene Auszeichnung entrüſtet,
lehnte ſie ab und verlangte die zweite Claſſe.
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[219/0243] Unehrliche Politik Gortſchakows. Ruſſiſche Kriegsdrohung. Intereſſe nicht berührten. Die leidenſchaftliche Bitterkeit der Sprache aller ruſſiſchen Organe, die durch die Cenſur autoriſirte Verhetzung der ruſſiſchen Volksſtimmung gegen uns ließ es dann gerathen erſcheinen, die Sympathien, die wir bei nichtruſſiſchen Mächten noch haben konnten, uns nicht zu entfremden. In dieſer Situation nun kam ein eigenhändiges Schreiben des Kaiſers Alexander, das trotz aller Verehrung für den bejahrten Freund und Oheim an zwei Stellen beſtimmte Kriegsdrohungen enthielt in der Form, die völkerrechtlich üblich iſt, etwa des In¬ halts: wenn die Weigerung, das deutſche Votum dem ruſſiſchen anzupaſſen, feſtgehalten wird, ſo kann der Friede zwiſchen uns nicht dauern. Dieſes Thema war in ſcharfen und unzweideutigen Worten an zwei Stellen variirt. Daß Fürſt Gortſchakow, der am 6. Sep¬ tember 1879 in einem Interview mit dem Correſpondenten des orleaniſtiſchen „Soleil“, Louis Peyramont, Frankreich eine ſehr auf¬ fallende Liebeserklärung machte, auch an jenem Schreiben mitge¬ arbeitet hatte, ſah ich dem letztern an; durch zwei ſpätre Wahr¬ nehmungen wurde meine Vermuthung beſtätigt. Im October hörte eine Dame der Berliner Geſellſchaft, die in dem Hôtel de l'Eu¬ rope in Baden-Baden Zimmernachbarin Gortſchakows war, ihn ſagen: „j'aurais voulu faire la guerre, mais la France a d'autres intentions.“ Und am 1. November war der Pariſer Correſpondent der „Times“ in der Lage, ſeinem Blatte zu melden, vor der Zuſammenkunft in Alexandrowo habe der Zar an Kaiſer Wilhelm geſchrieben, ſich über die Haltung Deutſchlands beſchwert und ſich der Phraſe bedient: „Der Kanzler Ew. Majeſtät hat die Verſprechungen von 1870 vergeſſen“ *). *) Der Correſpondent, Herr Oppert aus Blowitz in Böhmen, wird die Verbreitung dieſer ihm doch wohl von Gortſchakow zugegangenen Nachricht um ſo bereitwilliger übernommen haben, als er mir von dem Congreß her grollte. Auf den Wunſch Beaconsfields, der ihn bei guter Laune erhalten wollte, hatte ich ihm die dritte Claſſe des Kronenordens verſchafft. Er war über die nach preußiſchen Begriffen ungewöhnlich hoch gegriffene Auszeichnung entrüſtet, lehnte ſie ab und verlangte die zweite Claſſe.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/243>, abgerufen am 24.11.2024.