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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Achtundzwanzigstes Kapitel: Berliner Congreß.
der russischen Regirung, vermittelst eines Congresses zu dem Frieden
mit der Türkei zu gelangen, bewies, daß sie sich militärisch nicht
stark genug fühlte, es auf Krieg mit England und Oestreich an¬
kommen zu lassen, nachdem die rechtzeitige Besetzung von Con¬
stantinopel einmal versäumt war. Für die Mißgriffe der russischen
Politik theilt Fürst Gortschakow ohne Zweifel mit jüngern und
energischeren Gesinnungsgenossen die Verantwortlichkeit, aber frei
davon ist er nicht. Wie stark seine Stellung, nach den russischen
Traditionen gemessen, dem Kaiser gegenüber war, zeigt die
Thatsache, daß er gegen den ihm bekannten Wunsch seines
Herrn an dem Berliner Congresse als Vertreter Rußlands theil¬
nahm. Indem er, gestützt auf seine Eigenschaft als Reichskanzler
und auswärtiger Minister, seinen Sitz einnahm, entstand die eigen¬
thümliche Situation, daß der vorgesetzte Reichskanzler und der seinem
Ressort unterstellte Botschafter Schuwalow neben einander figurirten,
der Träger der russischen Vollmacht aber nicht der Reichskanzler
sondern der Botschafter war1).

Diese vielleicht actenmäßig nur aus den russischen Archiven
und vielleicht auch aus diesen nicht nachweisbare, aber nach meiner
Wahrnehmung unzweifelhafte Situation zeigt, daß auch in einer
Regirung mit so einheitlicher und absoluter Spitze, wie der russi¬
schen, die Einheit der politischen Action nicht gesichert ist. Sie ist
es vielleicht in höherm Grade in England, wo der leitende Minister
und die Berichte, die er empfängt, der öffentlichen Kritik unter¬
liegen, während in Rußland nur der jedesmalige Kaiser in der
Lage ist, je nach seiner Menschenkenntniß und Befähigung zu be¬
urtheilen, welcher von seinen berichtenden und vortragenden Dienern
irrt oder ihn belügt, und von welchem er die Wahrheit erfährt.
Ich will damit nicht sagen, daß der laufende Dienst des auswärtigen
Amtes in London klüger betrieben wird als in Petersburg, aber die
englische Regirung geräth seltener als die russische in die Noth¬

1) S. o. S. 106.

Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
der ruſſiſchen Regirung, vermittelſt eines Congreſſes zu dem Frieden
mit der Türkei zu gelangen, bewies, daß ſie ſich militäriſch nicht
ſtark genug fühlte, es auf Krieg mit England und Oeſtreich an¬
kommen zu laſſen, nachdem die rechtzeitige Beſetzung von Con¬
ſtantinopel einmal verſäumt war. Für die Mißgriffe der ruſſiſchen
Politik theilt Fürſt Gortſchakow ohne Zweifel mit jüngern und
energiſcheren Geſinnungsgenoſſen die Verantwortlichkeit, aber frei
davon iſt er nicht. Wie ſtark ſeine Stellung, nach den ruſſiſchen
Traditionen gemeſſen, dem Kaiſer gegenüber war, zeigt die
Thatſache, daß er gegen den ihm bekannten Wunſch ſeines
Herrn an dem Berliner Congreſſe als Vertreter Rußlands theil¬
nahm. Indem er, geſtützt auf ſeine Eigenſchaft als Reichskanzler
und auswärtiger Miniſter, ſeinen Sitz einnahm, entſtand die eigen¬
thümliche Situation, daß der vorgeſetzte Reichskanzler und der ſeinem
Reſſort unterſtellte Botſchafter Schuwalow neben einander figurirten,
der Träger der ruſſiſchen Vollmacht aber nicht der Reichskanzler
ſondern der Botſchafter war1).

Dieſe vielleicht actenmäßig nur aus den ruſſiſchen Archiven
und vielleicht auch aus dieſen nicht nachweisbare, aber nach meiner
Wahrnehmung unzweifelhafte Situation zeigt, daß auch in einer
Regirung mit ſo einheitlicher und abſoluter Spitze, wie der ruſſi¬
ſchen, die Einheit der politiſchen Action nicht geſichert iſt. Sie iſt
es vielleicht in höherm Grade in England, wo der leitende Miniſter
und die Berichte, die er empfängt, der öffentlichen Kritik unter¬
liegen, während in Rußland nur der jedesmalige Kaiſer in der
Lage iſt, je nach ſeiner Menſchenkenntniß und Befähigung zu be¬
urtheilen, welcher von ſeinen berichtenden und vortragenden Dienern
irrt oder ihn belügt, und von welchem er die Wahrheit erfährt.
Ich will damit nicht ſagen, daß der laufende Dienſt des auswärtigen
Amtes in London klüger betrieben wird als in Petersburg, aber die
engliſche Regirung geräth ſeltener als die ruſſiſche in die Noth¬

1) S. o. S. 106.
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[216/0240] Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß. der ruſſiſchen Regirung, vermittelſt eines Congreſſes zu dem Frieden mit der Türkei zu gelangen, bewies, daß ſie ſich militäriſch nicht ſtark genug fühlte, es auf Krieg mit England und Oeſtreich an¬ kommen zu laſſen, nachdem die rechtzeitige Beſetzung von Con¬ ſtantinopel einmal verſäumt war. Für die Mißgriffe der ruſſiſchen Politik theilt Fürſt Gortſchakow ohne Zweifel mit jüngern und energiſcheren Geſinnungsgenoſſen die Verantwortlichkeit, aber frei davon iſt er nicht. Wie ſtark ſeine Stellung, nach den ruſſiſchen Traditionen gemeſſen, dem Kaiſer gegenüber war, zeigt die Thatſache, daß er gegen den ihm bekannten Wunſch ſeines Herrn an dem Berliner Congreſſe als Vertreter Rußlands theil¬ nahm. Indem er, geſtützt auf ſeine Eigenſchaft als Reichskanzler und auswärtiger Miniſter, ſeinen Sitz einnahm, entſtand die eigen¬ thümliche Situation, daß der vorgeſetzte Reichskanzler und der ſeinem Reſſort unterſtellte Botſchafter Schuwalow neben einander figurirten, der Träger der ruſſiſchen Vollmacht aber nicht der Reichskanzler ſondern der Botſchafter war 1). Dieſe vielleicht actenmäßig nur aus den ruſſiſchen Archiven und vielleicht auch aus dieſen nicht nachweisbare, aber nach meiner Wahrnehmung unzweifelhafte Situation zeigt, daß auch in einer Regirung mit ſo einheitlicher und abſoluter Spitze, wie der ruſſi¬ ſchen, die Einheit der politiſchen Action nicht geſichert iſt. Sie iſt es vielleicht in höherm Grade in England, wo der leitende Miniſter und die Berichte, die er empfängt, der öffentlichen Kritik unter¬ liegen, während in Rußland nur der jedesmalige Kaiſer in der Lage iſt, je nach ſeiner Menſchenkenntniß und Befähigung zu be¬ urtheilen, welcher von ſeinen berichtenden und vortragenden Dienern irrt oder ihn belügt, und von welchem er die Wahrheit erfährt. Ich will damit nicht ſagen, daß der laufende Dienſt des auswärtigen Amtes in London klüger betrieben wird als in Petersburg, aber die engliſche Regirung geräth ſeltener als die ruſſiſche in die Noth¬ 1) S. o. S. 106.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/240>, abgerufen am 28.11.2024.