und Grenzen führt, wird unbewußt dadurch verschärft, daß in der Politik und in der Religion Keiner dem Andersgläubigen die Richtig¬ keit der eignen Ueberzeugung, des eignen Glaubens concludent nachweisen kann, und daß kein Gerichtshof vorhanden ist, der die Meinungsverschiedenheiten durch Erkenntniß zur Ruhe verweisen könnte.
In der Politik wie auf dem Gebiete des religiösen Glaubens kann der Conservative dem Liberalen, der Royalist dem Republi¬ kaner, der Gläubige dem Ungläubigen niemals ein andres Argu¬ ment entgegenhalten, als das in tausend Variationen der Beredsam¬ keit breitgetretene Thema: meine politischen Ueberzeugungen sind richtig und die deinigen falsch; mein Glaube ist Gott wohlgefällig, dein Unglaube führt zur Verdammniß. Es ist daher erklärlich, daß aus kirchlichen Meinungsverschiedenheiten Religionskriege ent¬ stehn und durch politische Parteikämpfe, so lange nicht ihre Erledi¬ gung durch Bürgerkrieg stattfindet, doch ein Umsturz der Schran¬ ken herbeigeführt wird, die durch Anstand und Ehrgefühl wohl¬ erzogner Leute im außerpolitischen Lebensverkehr aufrecht erhalten werden. Welcher gebildete und wohlerzogne Deutsche würde ver¬ suchen, im gewöhnlichen Verkehr auch nur einen geringen Theil der Grobheiten und Bosheiten zur Verwendung zu bringen, die er nicht ansteht, von der Rednertribüne vor hundert Zeugen seinem bürgerlich gleich achtbaren Gegner in einer schreienden, in keiner anständigen Gesellschaft üblichen Tonart in's Gesicht zu werfen? Wer würde es außerhalb des politischen Parteitreibens mit der von ihm selbst beanspruchten Stellung eines Edelmannes von gutem Hause verträglich halten, sich in den Gesellschaften, wo er verkehrt, gewerbsmäßig zum Colporteur von Lügen und Verleumdungen gegen andre Genossen seiner Gesellschaft und seines Standes zu machen? Wer würde sich nicht schämen, auf diese Weise un¬ bescholtene Leute unehrlicher Handlungen zu beschuldigen, ohne sie beweisen zu können? Kurz, wer würde anderswo als auf dem Gebiete politischer Parteikämpfe die Rolle eines gewissenlosen Ver¬
Die Aera-Artikel. Rohheit des Parteikampfes.
und Grenzen führt, wird unbewußt dadurch verſchärft, daß in der Politik und in der Religion Keiner dem Andersgläubigen die Richtig¬ keit der eignen Ueberzeugung, des eignen Glaubens concludent nachweiſen kann, und daß kein Gerichtshof vorhanden iſt, der die Meinungsverſchiedenheiten durch Erkenntniß zur Ruhe verweiſen könnte.
In der Politik wie auf dem Gebiete des religiöſen Glaubens kann der Conſervative dem Liberalen, der Royaliſt dem Republi¬ kaner, der Gläubige dem Ungläubigen niemals ein andres Argu¬ ment entgegenhalten, als das in tauſend Variationen der Beredſam¬ keit breitgetretene Thema: meine politiſchen Ueberzeugungen ſind richtig und die deinigen falſch; mein Glaube iſt Gott wohlgefällig, dein Unglaube führt zur Verdammniß. Es iſt daher erklärlich, daß aus kirchlichen Meinungsverſchiedenheiten Religionskriege ent¬ ſtehn und durch politiſche Parteikämpfe, ſo lange nicht ihre Erledi¬ gung durch Bürgerkrieg ſtattfindet, doch ein Umſturz der Schran¬ ken herbeigeführt wird, die durch Anſtand und Ehrgefühl wohl¬ erzogner Leute im außerpolitiſchen Lebensverkehr aufrecht erhalten werden. Welcher gebildete und wohlerzogne Deutſche würde ver¬ ſuchen, im gewöhnlichen Verkehr auch nur einen geringen Theil der Grobheiten und Bosheiten zur Verwendung zu bringen, die er nicht anſteht, von der Rednertribüne vor hundert Zeugen ſeinem bürgerlich gleich achtbaren Gegner in einer ſchreienden, in keiner anſtändigen Geſellſchaft üblichen Tonart in's Geſicht zu werfen? Wer würde es außerhalb des politiſchen Parteitreibens mit der von ihm ſelbſt beanſpruchten Stellung eines Edelmannes von gutem Hauſe verträglich halten, ſich in den Geſellſchaften, wo er verkehrt, gewerbsmäßig zum Colporteur von Lügen und Verleumdungen gegen andre Genoſſen ſeiner Geſellſchaft und ſeines Standes zu machen? Wer würde ſich nicht ſchämen, auf dieſe Weiſe un¬ beſcholtene Leute unehrlicher Handlungen zu beſchuldigen, ohne ſie beweiſen zu können? Kurz, wer würde anderswo als auf dem Gebiete politiſcher Parteikämpfe die Rolle eines gewiſſenloſen Ver¬
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Die Aera-Artikel. Rohheit des Parteikampfes.
und Grenzen führt, wird unbewußt dadurch verſchärft, daß in der
Politik und in der Religion Keiner dem Andersgläubigen die Richtig¬
keit der eignen Ueberzeugung, des eignen Glaubens concludent
nachweiſen kann, und daß kein Gerichtshof vorhanden iſt, der die
Meinungsverſchiedenheiten durch Erkenntniß zur Ruhe verweiſen
könnte.
In der Politik wie auf dem Gebiete des religiöſen Glaubens
kann der Conſervative dem Liberalen, der Royaliſt dem Republi¬
kaner, der Gläubige dem Ungläubigen niemals ein andres Argu¬
ment entgegenhalten, als das in tauſend Variationen der Beredſam¬
keit breitgetretene Thema: meine politiſchen Ueberzeugungen ſind
richtig und die deinigen falſch; mein Glaube iſt Gott wohlgefällig,
dein Unglaube führt zur Verdammniß. Es iſt daher erklärlich,
daß aus kirchlichen Meinungsverſchiedenheiten Religionskriege ent¬
ſtehn und durch politiſche Parteikämpfe, ſo lange nicht ihre Erledi¬
gung durch Bürgerkrieg ſtattfindet, doch ein Umſturz der Schran¬
ken herbeigeführt wird, die durch Anſtand und Ehrgefühl wohl¬
erzogner Leute im außerpolitiſchen Lebensverkehr aufrecht erhalten
werden. Welcher gebildete und wohlerzogne Deutſche würde ver¬
ſuchen, im gewöhnlichen Verkehr auch nur einen geringen Theil
der Grobheiten und Bosheiten zur Verwendung zu bringen, die
er nicht anſteht, von der Rednertribüne vor hundert Zeugen ſeinem
bürgerlich gleich achtbaren Gegner in einer ſchreienden, in keiner
anſtändigen Geſellſchaft üblichen Tonart in's Geſicht zu werfen?
Wer würde es außerhalb des politiſchen Parteitreibens mit der
von ihm ſelbſt beanſpruchten Stellung eines Edelmannes von gutem
Hauſe verträglich halten, ſich in den Geſellſchaften, wo er verkehrt,
gewerbsmäßig zum Colporteur von Lügen und Verleumdungen
gegen andre Genoſſen ſeiner Geſellſchaft und ſeines Standes zu
machen? Wer würde ſich nicht ſchämen, auf dieſe Weiſe un¬
beſcholtene Leute unehrlicher Handlungen zu beſchuldigen, ohne ſie
beweiſen zu können? Kurz, wer würde anderswo als auf dem
Gebiete politiſcher Parteikämpfe die Rolle eines gewiſſenloſen Ver¬
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/179>, abgerufen am 18.07.2024.
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