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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Elftes Kapitel: Zwischenzustand.
her einen Saldo, welcher bei geschickter Ausnutzung uns die Mög¬
lichkeit lassen könnte, mit Oestreich uns zu verständigen, ohne
mit Rußland zu brechen; ich fürchtete nur, daß die Verständigung
mit Oestreich wegen der dortigen Ueberschätzung der eignen und
Unterschätzung der preußischen Macht mißlingen werde, wenigstens
so lange, als man in Oestreich nicht von dem vollen Ernst unsrer
eventuellen Bereitschaft auch zu Bruch und Krieg überzeugt sei.
Der Glaube an solche Möglichkeit sei in dem letzten Jahrzehnte
unsrer Politik in Wien verloren gegangen, man habe sich dort auf
der in Olmütz errungnen Basis als auf einer dauernden eingelebt
und nicht gemerkt, oder vergessen, daß die Olmützer Convention
ihre Rechtfertigung hauptsächlich in der vorübergehenden Ungunst
unsrer Situation fand, die durch die Verzettelung unsrer Cadres
und durch die Thatsache hervorgerufen war, daß das ganze Schwer¬
gewicht der russischen Macht zur Zeit jener Convention in die Wag¬
schale Oestreichs gefallen war, wohin sie nach dem Krimkriege nicht
mehr fiel. Die östreichische Politik uns gegenüber sei aber nach
1856 ebenso anspruchsvoll geblieben, wie zu der Zeit, wo der
Kaiser Nicolaus für sie gegen uns einstand. Wir hätten uns der
östreichischen Illusion in einer Weise unterworfen, welche an das
Experiment erinnerte, ein Huhn durch einen Kreidestrich zu fesseln.
Die östreichische Zuversicht, ein geschickter Gebrauch der Presse, und
ein großer Reichthum an geheimen Fonds ermögliche dem Grafen
Buol die Aufrechthaltung der östreichischen Phantasmagorie und
das Ignoriren der starken Stellung, in der Preußen sich befinden
werde, so bald es bereit sei, den Zauber des Kreidestrichs zu
brechen. Worauf sich die Erwähnung der östreichischen geheimen
Fonds bezog, war dem Regenten bekannt1).

Nachdem ich meine Auffassung entwickelt hatte, erging an
Schleinitz die Aufforderung, die seinige gegenüber zu stellen. Es
geschah das in Anknüpfung an das Testament Friedrich Wilhelms III.,

1) S. o. S. 212 ff.

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
her einen Saldo, welcher bei geſchickter Ausnutzung uns die Mög¬
lichkeit laſſen könnte, mit Oeſtreich uns zu verſtändigen, ohne
mit Rußland zu brechen; ich fürchtete nur, daß die Verſtändigung
mit Oeſtreich wegen der dortigen Ueberſchätzung der eignen und
Unterſchätzung der preußiſchen Macht mißlingen werde, wenigſtens
ſo lange, als man in Oeſtreich nicht von dem vollen Ernſt unſrer
eventuellen Bereitſchaft auch zu Bruch und Krieg überzeugt ſei.
Der Glaube an ſolche Möglichkeit ſei in dem letzten Jahrzehnte
unſrer Politik in Wien verloren gegangen, man habe ſich dort auf
der in Olmütz errungnen Baſis als auf einer dauernden eingelebt
und nicht gemerkt, oder vergeſſen, daß die Olmützer Convention
ihre Rechtfertigung hauptſächlich in der vorübergehenden Ungunſt
unſrer Situation fand, die durch die Verzettelung unſrer Cadres
und durch die Thatſache hervorgerufen war, daß das ganze Schwer¬
gewicht der ruſſiſchen Macht zur Zeit jener Convention in die Wag¬
ſchale Oeſtreichs gefallen war, wohin ſie nach dem Krimkriege nicht
mehr fiel. Die öſtreichiſche Politik uns gegenüber ſei aber nach
1856 ebenſo anſpruchsvoll geblieben, wie zu der Zeit, wo der
Kaiſer Nicolaus für ſie gegen uns einſtand. Wir hätten uns der
öſtreichiſchen Illuſion in einer Weiſe unterworfen, welche an das
Experiment erinnerte, ein Huhn durch einen Kreideſtrich zu feſſeln.
Die öſtreichiſche Zuverſicht, ein geſchickter Gebrauch der Preſſe, und
ein großer Reichthum an geheimen Fonds ermögliche dem Grafen
Buol die Aufrechthaltung der öſtreichiſchen Phantasmagorie und
das Ignoriren der ſtarken Stellung, in der Preußen ſich befinden
werde, ſo bald es bereit ſei, den Zauber des Kreideſtrichs zu
brechen. Worauf ſich die Erwähnung der öſtreichiſchen geheimen
Fonds bezog, war dem Regenten bekannt1).

Nachdem ich meine Auffaſſung entwickelt hatte, erging an
Schleinitz die Aufforderung, die ſeinige gegenüber zu ſtellen. Es
geſchah das in Anknüpfung an das Teſtament Friedrich Wilhelms III.,

1) S. o. S. 212 ff.
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[238/0265] Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand. her einen Saldo, welcher bei geſchickter Ausnutzung uns die Mög¬ lichkeit laſſen könnte, mit Oeſtreich uns zu verſtändigen, ohne mit Rußland zu brechen; ich fürchtete nur, daß die Verſtändigung mit Oeſtreich wegen der dortigen Ueberſchätzung der eignen und Unterſchätzung der preußiſchen Macht mißlingen werde, wenigſtens ſo lange, als man in Oeſtreich nicht von dem vollen Ernſt unſrer eventuellen Bereitſchaft auch zu Bruch und Krieg überzeugt ſei. Der Glaube an ſolche Möglichkeit ſei in dem letzten Jahrzehnte unſrer Politik in Wien verloren gegangen, man habe ſich dort auf der in Olmütz errungnen Baſis als auf einer dauernden eingelebt und nicht gemerkt, oder vergeſſen, daß die Olmützer Convention ihre Rechtfertigung hauptſächlich in der vorübergehenden Ungunſt unſrer Situation fand, die durch die Verzettelung unſrer Cadres und durch die Thatſache hervorgerufen war, daß das ganze Schwer¬ gewicht der ruſſiſchen Macht zur Zeit jener Convention in die Wag¬ ſchale Oeſtreichs gefallen war, wohin ſie nach dem Krimkriege nicht mehr fiel. Die öſtreichiſche Politik uns gegenüber ſei aber nach 1856 ebenſo anſpruchsvoll geblieben, wie zu der Zeit, wo der Kaiſer Nicolaus für ſie gegen uns einſtand. Wir hätten uns der öſtreichiſchen Illuſion in einer Weiſe unterworfen, welche an das Experiment erinnerte, ein Huhn durch einen Kreideſtrich zu feſſeln. Die öſtreichiſche Zuverſicht, ein geſchickter Gebrauch der Preſſe, und ein großer Reichthum an geheimen Fonds ermögliche dem Grafen Buol die Aufrechthaltung der öſtreichiſchen Phantasmagorie und das Ignoriren der ſtarken Stellung, in der Preußen ſich befinden werde, ſo bald es bereit ſei, den Zauber des Kreideſtrichs zu brechen. Worauf ſich die Erwähnung der öſtreichiſchen geheimen Fonds bezog, war dem Regenten bekannt 1). Nachdem ich meine Auffaſſung entwickelt hatte, erging an Schleinitz die Aufforderung, die ſeinige gegenüber zu ſtellen. Es geſchah das in Anknüpfung an das Teſtament Friedrich Wilhelms III., 1) S. o. S. 212 ff.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/265>, abgerufen am 29.11.2024.