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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Zehntes Kapitel: Petersburg.
Erziehung er einen Antheil beanspruchte, war sein Wohlwollen für
mich unbegrenzt, und die Formen, in denen er mir Vertrauen zeigte,
überschritten die unter Diplomaten zulässige Grenze, vielleicht aus
Berechnung, vielleicht aus Ostentation einem Collegen gegenüber,
an dessen bewunderndes Verständniß mir gelungen war ihn glauben
zu machen. Diese Beziehungen wurden unhaltbar, sobald ich als
preußischer Minister ihm die Illusion seiner persönlichen und staat¬
lichen Ueberlegenheit nicht mehr lassen konnte. Hinc irae. Sobald
ich selbständig als Deutscher oder Preuße oder als Rival im
europäischen Ansehn und in der geschichtlichen Publicistik aufzutreten
begann, verwandelte sich sein Wohlwollen in Mißgunst.

Ob diese Wandlung erst nach 1870 begann oder ob sie sich
vor diesem Jahre meiner Wahrnehmung entzogen hatte, lasse ich
dahingestellt. Wenn Erstres der Fall war, so kann ich als ein
achtbares und für einen russischen Kanzler berechtigtes Motiv den
Irrthum der Berechnung in Anschlag bringen, daß die Entfremdung
zwischen uns und Oestreich auch nach 1866 dauernd fortbestehn
werde. Wir haben 1870 der russischen Politik bereitwillig bei¬
gestanden, um sie im Schwarzen Meere von den Beschränkungen
zu lösen, welche der Pariser Vertrag ihr auferlegt hatte. Dieselben
waren unnatürlich, und das Verbot der freien Bewegung an der
eignen Meeresküste war für eine Macht wie Rußland auf die Dauer
unerträglich, weil demüthigend. Außerdem lag und liegt es nicht
in unserm Interesse, Rußland in der Verwendung seiner über¬
schüssigen Kräfte nach Osten hin hinderlich zu sein; wir sollen froh
sein, wenn wir in unsrer Lage und geschichtlichen Entwicklung in
Europa Mächte finden, mit denen wir auf keine Art von Con¬
currenz der politischen Interessen angewiesen sind, wie das zwischen
uns und Rußland bisher der Fall ist. Mit Frankreich werden wir
nie Frieden haben, mit Rußland nie die Nothwendigkeit des Krieges,
wenn nicht liberale Dummheiten oder dynastische Mißgriffe die
Situation fälschen.

Zehntes Kapitel: Petersburg.
Erziehung er einen Antheil beanſpruchte, war ſein Wohlwollen für
mich unbegrenzt, und die Formen, in denen er mir Vertrauen zeigte,
überſchritten die unter Diplomaten zuläſſige Grenze, vielleicht aus
Berechnung, vielleicht aus Oſtentation einem Collegen gegenüber,
an deſſen bewunderndes Verſtändniß mir gelungen war ihn glauben
zu machen. Dieſe Beziehungen wurden unhaltbar, ſobald ich als
preußiſcher Miniſter ihm die Illuſion ſeiner perſönlichen und ſtaat¬
lichen Ueberlegenheit nicht mehr laſſen konnte. Hinc irae. Sobald
ich ſelbſtändig als Deutſcher oder Preuße oder als Rival im
europäiſchen Anſehn und in der geſchichtlichen Publiciſtik aufzutreten
begann, verwandelte ſich ſein Wohlwollen in Mißgunſt.

Ob dieſe Wandlung erſt nach 1870 begann oder ob ſie ſich
vor dieſem Jahre meiner Wahrnehmung entzogen hatte, laſſe ich
dahingeſtellt. Wenn Erſtres der Fall war, ſo kann ich als ein
achtbares und für einen ruſſiſchen Kanzler berechtigtes Motiv den
Irrthum der Berechnung in Anſchlag bringen, daß die Entfremdung
zwiſchen uns und Oeſtreich auch nach 1866 dauernd fortbeſtehn
werde. Wir haben 1870 der ruſſiſchen Politik bereitwillig bei¬
geſtanden, um ſie im Schwarzen Meere von den Beſchränkungen
zu löſen, welche der Pariſer Vertrag ihr auferlegt hatte. Dieſelben
waren unnatürlich, und das Verbot der freien Bewegung an der
eignen Meeresküſte war für eine Macht wie Rußland auf die Dauer
unerträglich, weil demüthigend. Außerdem lag und liegt es nicht
in unſerm Intereſſe, Rußland in der Verwendung ſeiner über¬
ſchüſſigen Kräfte nach Oſten hin hinderlich zu ſein; wir ſollen froh
ſein, wenn wir in unſrer Lage und geſchichtlichen Entwicklung in
Europa Mächte finden, mit denen wir auf keine Art von Con¬
currenz der politiſchen Intereſſen angewieſen ſind, wie das zwiſchen
uns und Rußland bisher der Fall iſt. Mit Frankreich werden wir
nie Frieden haben, mit Rußland nie die Nothwendigkeit des Krieges,
wenn nicht liberale Dummheiten oder dynaſtiſche Mißgriffe die
Situation fälſchen.

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[224/0251] Zehntes Kapitel: Petersburg. Erziehung er einen Antheil beanſpruchte, war ſein Wohlwollen für mich unbegrenzt, und die Formen, in denen er mir Vertrauen zeigte, überſchritten die unter Diplomaten zuläſſige Grenze, vielleicht aus Berechnung, vielleicht aus Oſtentation einem Collegen gegenüber, an deſſen bewunderndes Verſtändniß mir gelungen war ihn glauben zu machen. Dieſe Beziehungen wurden unhaltbar, ſobald ich als preußiſcher Miniſter ihm die Illuſion ſeiner perſönlichen und ſtaat¬ lichen Ueberlegenheit nicht mehr laſſen konnte. Hinc irae. Sobald ich ſelbſtändig als Deutſcher oder Preuße oder als Rival im europäiſchen Anſehn und in der geſchichtlichen Publiciſtik aufzutreten begann, verwandelte ſich ſein Wohlwollen in Mißgunſt. Ob dieſe Wandlung erſt nach 1870 begann oder ob ſie ſich vor dieſem Jahre meiner Wahrnehmung entzogen hatte, laſſe ich dahingeſtellt. Wenn Erſtres der Fall war, ſo kann ich als ein achtbares und für einen ruſſiſchen Kanzler berechtigtes Motiv den Irrthum der Berechnung in Anſchlag bringen, daß die Entfremdung zwiſchen uns und Oeſtreich auch nach 1866 dauernd fortbeſtehn werde. Wir haben 1870 der ruſſiſchen Politik bereitwillig bei¬ geſtanden, um ſie im Schwarzen Meere von den Beſchränkungen zu löſen, welche der Pariſer Vertrag ihr auferlegt hatte. Dieſelben waren unnatürlich, und das Verbot der freien Bewegung an der eignen Meeresküſte war für eine Macht wie Rußland auf die Dauer unerträglich, weil demüthigend. Außerdem lag und liegt es nicht in unſerm Intereſſe, Rußland in der Verwendung ſeiner über¬ ſchüſſigen Kräfte nach Oſten hin hinderlich zu ſein; wir ſollen froh ſein, wenn wir in unſrer Lage und geſchichtlichen Entwicklung in Europa Mächte finden, mit denen wir auf keine Art von Con¬ currenz der politiſchen Intereſſen angewieſen ſind, wie das zwiſchen uns und Rußland bisher der Fall iſt. Mit Frankreich werden wir nie Frieden haben, mit Rußland nie die Nothwendigkeit des Krieges, wenn nicht liberale Dummheiten oder dynaſtiſche Mißgriffe die Situation fälſchen.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/251>, abgerufen am 22.11.2024.