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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Briefwechsel mit Gerlach über Frankreich.
"Frankfurt, 30. Mai 1857.

Bei Beantwortung Ihrer beiden letzten Briefe bin ich unter
dem Drucke des Gefühls der Unvollkommenheit des menschlichen
Ausdrucks, besonders des schriftlichen; jeder Versuch sich klar zu
machen, ist der Vater neuer Mißverständnisse; es ist uns nicht ge¬
geben, den ganzen Menschen zu Papier oder über die Zunge zu
bringen, und die Bruchstücke, welche wir zu Tage fördern, können
wir Andre nicht grade so wahrnehmen lassen, wie wir sie selbst
empfunden haben, theils wegen der Inferiorität der Sprache gegen
den Gedanken, theils weil die äußern Thatsachen, auf die wir Be¬
zug nehmen, sich selten zwei Personen unter gleichem Lichte dar¬
stellen, sobald der Eine nicht die Anschauung des Andern auf
Glauben und ohne eignes Urtheil annimmt.

Den Abhaltungen, die in Geschäften, Besuchen, schönem Wetter,
Faulheit, Kinderkrankheit und eigner Krankheit lagen, kam jenes
Gefühl zu Hülfe und entmuthigte mich, Ihrer Kritik mit fernern
Argumenten gegenüber zu treten, von denen jedes seine Halbheiten
und Blößen an sich tragen wird. Nehmen Sie bei der Beurthei¬
lung Rücksicht darauf, daß ich Reconvalescent bin und heut den
ersten Marienbader getrunken habe, und wenn meine Ansichten
von den Ihrigen abweichen, so suchen Sie die Verschiedenheit
im Blättertrieb und nicht in der Wurzel, für welche ich vielmehr
meinen Ueberzeugungen die Gemeinschaft mit den Ihrigen stets
vindicire.

Das Prinzip des Kampfes gegen die Revolution erkenne auch
ich als das meinige an, aber ich halte es nicht für richtig, Louis
Napoleon als den alleinigen oder auch nur kat' exokhen als den
Repräsentanten der Revolution hinzustellen, und halte es nicht für
möglich, das Prinzip in der Politik als ein solches durchzuführen,
daß die entferntesten Consequenzen desselben noch jede andre Rück¬
sicht durchbrechen, daß es gewissermaßen den alleinigen Trumpf
im Spiele bildet, von dem die niedrigste Karte noch die höchste
jeder andern Farbe sticht.

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
„Frankfurt, 30. Mai 1857.

Bei Beantwortung Ihrer beiden letzten Briefe bin ich unter
dem Drucke des Gefühls der Unvollkommenheit des menſchlichen
Ausdrucks, beſonders des ſchriftlichen; jeder Verſuch ſich klar zu
machen, iſt der Vater neuer Mißverſtändniſſe; es iſt uns nicht ge¬
geben, den ganzen Menſchen zu Papier oder über die Zunge zu
bringen, und die Bruchſtücke, welche wir zu Tage fördern, können
wir Andre nicht grade ſo wahrnehmen laſſen, wie wir ſie ſelbſt
empfunden haben, theils wegen der Inferiorität der Sprache gegen
den Gedanken, theils weil die äußern Thatſachen, auf die wir Be¬
zug nehmen, ſich ſelten zwei Perſonen unter gleichem Lichte dar¬
ſtellen, ſobald der Eine nicht die Anſchauung des Andern auf
Glauben und ohne eignes Urtheil annimmt.

Den Abhaltungen, die in Geſchäften, Beſuchen, ſchönem Wetter,
Faulheit, Kinderkrankheit und eigner Krankheit lagen, kam jenes
Gefühl zu Hülfe und entmuthigte mich, Ihrer Kritik mit fernern
Argumenten gegenüber zu treten, von denen jedes ſeine Halbheiten
und Blößen an ſich tragen wird. Nehmen Sie bei der Beurthei¬
lung Rückſicht darauf, daß ich Reconvaleſcent bin und heut den
erſten Marienbader getrunken habe, und wenn meine Anſichten
von den Ihrigen abweichen, ſo ſuchen Sie die Verſchiedenheit
im Blättertrieb und nicht in der Wurzel, für welche ich vielmehr
meinen Ueberzeugungen die Gemeinſchaft mit den Ihrigen ſtets
vindicire.

Das Prinzip des Kampfes gegen die Revolution erkenne auch
ich als das meinige an, aber ich halte es nicht für richtig, Louis
Napoleon als den alleinigen oder auch nur κατ’ ἐξοχήν als den
Repräſentanten der Revolution hinzuſtellen, und halte es nicht für
möglich, das Prinzip in der Politik als ein ſolches durchzuführen,
daß die entfernteſten Conſequenzen deſſelben noch jede andre Rück¬
ſicht durchbrechen, daß es gewiſſermaßen den alleinigen Trumpf
im Spiele bildet, von dem die niedrigſte Karte noch die höchſte
jeder andern Farbe ſticht.

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[175/0202] Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich. „Frankfurt, 30. Mai 1857. Bei Beantwortung Ihrer beiden letzten Briefe bin ich unter dem Drucke des Gefühls der Unvollkommenheit des menſchlichen Ausdrucks, beſonders des ſchriftlichen; jeder Verſuch ſich klar zu machen, iſt der Vater neuer Mißverſtändniſſe; es iſt uns nicht ge¬ geben, den ganzen Menſchen zu Papier oder über die Zunge zu bringen, und die Bruchſtücke, welche wir zu Tage fördern, können wir Andre nicht grade ſo wahrnehmen laſſen, wie wir ſie ſelbſt empfunden haben, theils wegen der Inferiorität der Sprache gegen den Gedanken, theils weil die äußern Thatſachen, auf die wir Be¬ zug nehmen, ſich ſelten zwei Perſonen unter gleichem Lichte dar¬ ſtellen, ſobald der Eine nicht die Anſchauung des Andern auf Glauben und ohne eignes Urtheil annimmt. Den Abhaltungen, die in Geſchäften, Beſuchen, ſchönem Wetter, Faulheit, Kinderkrankheit und eigner Krankheit lagen, kam jenes Gefühl zu Hülfe und entmuthigte mich, Ihrer Kritik mit fernern Argumenten gegenüber zu treten, von denen jedes ſeine Halbheiten und Blößen an ſich tragen wird. Nehmen Sie bei der Beurthei¬ lung Rückſicht darauf, daß ich Reconvaleſcent bin und heut den erſten Marienbader getrunken habe, und wenn meine Anſichten von den Ihrigen abweichen, ſo ſuchen Sie die Verſchiedenheit im Blättertrieb und nicht in der Wurzel, für welche ich vielmehr meinen Ueberzeugungen die Gemeinſchaft mit den Ihrigen ſtets vindicire. Das Prinzip des Kampfes gegen die Revolution erkenne auch ich als das meinige an, aber ich halte es nicht für richtig, Louis Napoleon als den alleinigen oder auch nur κατ’ ἐξοχήν als den Repräſentanten der Revolution hinzuſtellen, und halte es nicht für möglich, das Prinzip in der Politik als ein ſolches durchzuführen, daß die entfernteſten Conſequenzen deſſelben noch jede andre Rück¬ ſicht durchbrechen, daß es gewiſſermaßen den alleinigen Trumpf im Spiele bildet, von dem die niedrigſte Karte noch die höchſte jeder andern Farbe ſticht.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/202>, abgerufen am 22.11.2024.