nach Ihrer eignen Ansicht sind die deutschen Mittelstaaten leider im Wiener Congreß aus Halbheit und Eifersucht octroyirte und ge¬ schützte Producte der Revolution und des ihr folgenden Bonapartismus, der Materia peccans, in Deutschland. Hätte man principienmäßig in Wien Belgien an Oesterreich und die fränkischen Fürstenthümer an Preußen zurückgegeben: Deutschland wäre in einer andern Lage als jetzt, besonders wenn man gleichzeitig die Mißgeburten Bayern, Würtemberg, Darmstadt auf ihre natürliche Größe zurückgeführt hätte; damals aber zog man Arrondirung u. s. w., lauter mechanische Interessen dem Principe vor.
Sie haben sich aber gewiß bei meiner weitläufigen Deduction schon gelangweilt, ich will daher der neuesten Zeit entgegengehen. Finden Sie es denn eine glückliche Lage der Dinge, daß jetzt, wo Preußen und Oesterreich sich feindlich entgegenstehen, Bonaparte bis Dessau hin regiert und Nichts in Deutschland geschieht ohne bei ihm anzufragen? Kann uns ein Bündniß mit Frankreich den Zustand der Dinge ersetzen, welcher von 1815--1848 bestanden hat, wo sich keine fremde Macht in die deutschen Angelegenheiten mischte? Daß Oesterreich und die deutschen Mittelstaaten nichts für uns thun werden, davon bin ich wie Sie überzeugt. Ich glaube nur außer¬ dem noch, daß Frankreich, das heißt Bonaparte, auch nichts für uns thun wird. Daß man unfreundlich und unhöflich gegen ihn ist, billige ich so wenig als Sie; daß man Frankreich aus den politischen Combinationen ausschließt, ist Wahnsinn. Daraus folgt aber noch nicht, daß man Bonapartes Ursprung vergißt, ihn nach Berlin ein¬ ladet und dadurch im In- und Auslande alle Begriffe verwirrt. In der Neuschateler Sache hat er sich insofern gut benommen, daß er den Krieg verhindert und offen gesagt hat, daß er nicht mehr thun würde. Ob es aber nicht besser um diese Angelegenheit stände, wenn wir uns nicht von einer ,Gefühlspolitik' hätten leiten lassen, sondern die Sache an die europäischen Mächte, die das Londoner Protokoll unterzeichnet, gebracht hätten, ohne uns vorher unter die Flügel Bonapartes geduckt zu haben, das ist doch noch sehr fraglich,
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
nach Ihrer eignen Anſicht ſind die deutſchen Mittelſtaaten leider im Wiener Congreß aus Halbheit und Eiferſucht octroyirte und ge¬ ſchützte Producte der Revolution und des ihr folgenden Bonapartismus, der Materia peccans, in Deutſchland. Hätte man principienmäßig in Wien Belgien an Oeſterreich und die fränkiſchen Fürſtenthümer an Preußen zurückgegeben: Deutſchland wäre in einer andern Lage als jetzt, beſonders wenn man gleichzeitig die Mißgeburten Bayern, Würtemberg, Darmſtadt auf ihre natürliche Größe zurückgeführt hätte; damals aber zog man Arrondirung u. ſ. w., lauter mechaniſche Intereſſen dem Principe vor.
Sie haben ſich aber gewiß bei meiner weitläufigen Deduction ſchon gelangweilt, ich will daher der neueſten Zeit entgegengehen. Finden Sie es denn eine glückliche Lage der Dinge, daß jetzt, wo Preußen und Oeſterreich ſich feindlich entgegenſtehen, Bonaparte bis Deſſau hin regiert und Nichts in Deutſchland geſchieht ohne bei ihm anzufragen? Kann uns ein Bündniß mit Frankreich den Zuſtand der Dinge erſetzen, welcher von 1815—1848 beſtanden hat, wo ſich keine fremde Macht in die deutſchen Angelegenheiten miſchte? Daß Oeſterreich und die deutſchen Mittelſtaaten nichts für uns thun werden, davon bin ich wie Sie überzeugt. Ich glaube nur außer¬ dem noch, daß Frankreich, das heißt Bonaparte, auch nichts für uns thun wird. Daß man unfreundlich und unhöflich gegen ihn iſt, billige ich ſo wenig als Sie; daß man Frankreich aus den politiſchen Combinationen ausſchließt, iſt Wahnſinn. Daraus folgt aber noch nicht, daß man Bonapartes Urſprung vergißt, ihn nach Berlin ein¬ ladet und dadurch im In- und Auslande alle Begriffe verwirrt. In der Neuſchâteler Sache hat er ſich inſofern gut benommen, daß er den Krieg verhindert und offen geſagt hat, daß er nicht mehr thun würde. Ob es aber nicht beſſer um dieſe Angelegenheit ſtände, wenn wir uns nicht von einer ‚Gefühlspolitik‘ hätten leiten laſſen, ſondern die Sache an die europäiſchen Mächte, die das Londoner Protokoll unterzeichnet, gebracht hätten, ohne uns vorher unter die Flügel Bonapartes geduckt zu haben, das iſt doch noch ſehr fraglich,
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Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
nach Ihrer eignen Anſicht ſind die deutſchen Mittelſtaaten leider
im Wiener Congreß aus Halbheit und Eiferſucht octroyirte und ge¬
ſchützte Producte der Revolution und des ihr folgenden Bonapartismus,
der Materia peccans, in Deutſchland. Hätte man principienmäßig
in Wien Belgien an Oeſterreich und die fränkiſchen Fürſtenthümer
an Preußen zurückgegeben: Deutſchland wäre in einer andern Lage
als jetzt, beſonders wenn man gleichzeitig die Mißgeburten Bayern,
Würtemberg, Darmſtadt auf ihre natürliche Größe zurückgeführt
hätte; damals aber zog man Arrondirung u. ſ. w., lauter mechaniſche
Intereſſen dem Principe vor.
Sie haben ſich aber gewiß bei meiner weitläufigen Deduction
ſchon gelangweilt, ich will daher der neueſten Zeit entgegengehen.
Finden Sie es denn eine glückliche Lage der Dinge, daß jetzt, wo
Preußen und Oeſterreich ſich feindlich entgegenſtehen, Bonaparte bis
Deſſau hin regiert und Nichts in Deutſchland geſchieht ohne bei ihm
anzufragen? Kann uns ein Bündniß mit Frankreich den Zuſtand
der Dinge erſetzen, welcher von 1815—1848 beſtanden hat, wo
ſich keine fremde Macht in die deutſchen Angelegenheiten miſchte?
Daß Oeſterreich und die deutſchen Mittelſtaaten nichts für uns thun
werden, davon bin ich wie Sie überzeugt. Ich glaube nur außer¬
dem noch, daß Frankreich, das heißt Bonaparte, auch nichts für uns
thun wird. Daß man unfreundlich und unhöflich gegen ihn iſt,
billige ich ſo wenig als Sie; daß man Frankreich aus den politiſchen
Combinationen ausſchließt, iſt Wahnſinn. Daraus folgt aber noch
nicht, daß man Bonapartes Urſprung vergißt, ihn nach Berlin ein¬
ladet und dadurch im In- und Auslande alle Begriffe verwirrt.
In der Neuſchâteler Sache hat er ſich inſofern gut benommen, daß
er den Krieg verhindert und offen geſagt hat, daß er nicht mehr
thun würde. Ob es aber nicht beſſer um dieſe Angelegenheit ſtände,
wenn wir uns nicht von einer ‚Gefühlspolitik‘ hätten leiten laſſen,
ſondern die Sache an die europäiſchen Mächte, die das Londoner
Protokoll unterzeichnet, gebracht hätten, ohne uns vorher unter die
Flügel Bonapartes geduckt zu haben, das iſt doch noch ſehr fraglich,
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/195>, abgerufen am 15.08.2024.
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