Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_015.001 p3b_015.004 Göttliche Reminiscenz. p3b_015.007 p3b_015.011 Lösung. Von Mörike. p3b_015.028Vorlänngst | sah ich | ein wun | dersa | mes Bild | gemalt, | p3b_015.029
Jm Kloster der Karthäuser, das ich oft besucht. p3b_015.030 Heut, da ich im Gebirge droben einsam ging, p3b_015.031 Umstarrt von wild zerstreuter Felsentrümmersaat, p3b_015.032 Trat es mit frischen Farben vor die Seele mir. p3b_015.033 An jäher Steinkluft, deren dünn begraster Saum, p3b_015.034 Von zweien Palmen überschattet, magre Kost p3b_015.035 Den Ziegen beut, den steilauf weidenden am Hang, p3b_015.036 Sieht man den Knaben Jesus sitzend auf Gestein; p3b_015.037 Ein weißes Vließ als Polster ist ihm unterlegt. p3b_015.038 Nicht allzu kindlich däuchte mir das schöne Kind; p3b_015.039 Der heiße Sommer, sicherlich sein fünfter schon, p3b_015.040 Hat seine Glieder, welche bis zum Knie herab p3b_015.041 Das gelbe Röckchen decket mit dem Purpursaum, p3b_015.001 p3b_015.004 Göttliche Reminiscenz. p3b_015.007 p3b_015.011 Lösung. Von Mörike. p3b_015.028Vŏrlǟngst │ săh īch │ ĕin wūn │ dĕrsā │ mĕs Bīld │ gĕmālt, │ p3b_015.029
Jm Kloster der Karthäuser, das ich oft besucht. p3b_015.030 Heut, da ich im Gebirge droben einsam ging, p3b_015.031 Umstarrt von wild zerstreuter Felsentrümmersaat, p3b_015.032 Trat es mit frischen Farben vor die Seele mir. p3b_015.033 An jäher Steinkluft, deren dünn begraster Saum, p3b_015.034 Von zweien Palmen überschattet, magre Kost p3b_015.035 Den Ziegen beut, den steilauf weidenden am Hang, p3b_015.036 Sieht man den Knaben Jesus sitzend auf Gestein; p3b_015.037 Ein weißes Vließ als Polster ist ihm unterlegt. p3b_015.038 Nicht allzu kindlich däuchte mir das schöne Kind; p3b_015.039 Der heiße Sommer, sicherlich sein fünfter schon, p3b_015.040 Hat seine Glieder, welche bis zum Knie herab p3b_015.041 Das gelbe Röckchen decket mit dem Purpursaum, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0041" n="15"/> <p><lb n="p3b_015.001"/> 15. Ein Kunstgriff ist es, daß man da, wo der Jnhalt über den <lb n="p3b_015.002"/> Vers hinüberflutet, zur Ausfüllung der folgenden Zeile einen kurzen <lb n="p3b_015.003"/> Satz einfügt &c.</p> <p> <lb n="p3b_015.004"/> <hi rendition="#g">Aufgabe. Nachfolgender Stoff ist im neuen Senarius zu <lb n="p3b_015.005"/> geben.</hi> </p> <lb n="p3b_015.006"/> <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Göttliche Reminiscenz.</hi> </hi> </p> <p><lb n="p3b_015.007"/><hi rendition="#g">Stoff.</hi> Vor langer Zeit sah ich ein wundersames Gemälde │ in einem <lb n="p3b_015.008"/> Karthäuserkloster, das ich oft besuchte. │ Heute trat es mir mit frischen Farben <lb n="p3b_015.009"/> vor die Seele, │ als ich einsam im Gebirge wandelte, │ umgeben von wild umhergeworfenen <lb n="p3b_015.010"/> Felsentrümmern. │</p> <p><lb n="p3b_015.011"/> An einer jähen Steinkluft, deren Saum │ von zwei Palmen überschattet <lb n="p3b_015.012"/> │ nur wenig Gras den emporklimmenden Ziegen bietet, │ sieht man den <lb n="p3b_015.013"/> Jesusknaben auf Steinen sitzend; │ ihm ist ein weißes Vließ als Polster untergelegt. <lb n="p3b_015.014"/> │ Mir erschien das schöne Kind nicht allzu kindlich. │ Der heiße Sommer, <lb n="p3b_015.015"/> welcher sicherlich sein fünfter schon war, │ hat seine, bis zum Knie herab │ von <lb n="p3b_015.016"/> einem gelben, purpurumsäumten Röcklein │ bedeckten Glieder und seine gesunden <lb n="p3b_015.017"/> Wangen sanft gebräunt; │ aus seinen dunklen Augen leuchtet stille Feuerkraft; <lb n="p3b_015.018"/> │ doch den Mund umspielt ein fremder, unnennbarer Reiz. │ Ein alter <lb n="p3b_015.019"/> Hirte, welcher sich freundlich zu dem Kinde niedergebeugt hat, │ übergab ihm <lb n="p3b_015.020"/> soeben ein versteinertes, seltsam gestaltetes Meergewächs │ zum Zeitvertreib. │ Nachdem <lb n="p3b_015.021"/> der Knabe das Wunderding beschaut, │ spannt sich sein weiter Blick wie <lb n="p3b_015.022"/> betroffen │ dir entgegen, doch wirklich ohne Gegenstand, │ durchdringend ewige, <lb n="p3b_015.023"/> grenzenlose Zeitenfernen: │ als wittre durch die überwölkte Stirn ein Blitz │ der <lb n="p3b_015.024"/> Gottheit, ein Erinnern, das im nämlichen Augenblick erloschen sein wird; und <lb n="p3b_015.025"/> das welterschaffende │ Wort von Anfang zeigt lächelnd als ein unwissendes, <lb n="p3b_015.026"/> spielendes Erdenkind dir sein eigenes Werk.</p> <lb n="p3b_015.027"/> <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Lösung. Von Mörike.</hi> </hi> </p> <lb n="p3b_015.028"/> <lg> <l>Vŏrlǟngst │ săh īch │ ĕin wūn │ dĕrsā │ mĕs Bīld │ gĕmālt, │</l> <lb n="p3b_015.029"/> <l>Jm Kloster der Karthäuser, das ich oft besucht.</l> <lb n="p3b_015.030"/> <l>Heut, da ich im Gebirge droben einsam ging,</l> <lb n="p3b_015.031"/> <l>Umstarrt von wild zerstreuter Felsentrümmersaat,</l> <lb n="p3b_015.032"/> <l>Trat es mit frischen Farben vor die Seele mir.</l> <lb n="p3b_015.033"/> <l> An jäher Steinkluft, deren dünn begraster Saum,</l> <lb n="p3b_015.034"/> <l>Von zweien Palmen überschattet, magre Kost</l> <lb n="p3b_015.035"/> <l>Den Ziegen beut, den steilauf weidenden am Hang,</l> <lb n="p3b_015.036"/> <l>Sieht man den Knaben Jesus sitzend auf Gestein;</l> <lb n="p3b_015.037"/> <l>Ein weißes Vließ als Polster ist ihm unterlegt.</l> <lb n="p3b_015.038"/> <l>Nicht allzu kindlich däuchte mir das schöne Kind;</l> <lb n="p3b_015.039"/> <l>Der heiße Sommer, sicherlich sein fünfter schon,</l> <lb n="p3b_015.040"/> <l>Hat seine Glieder, welche bis zum Knie herab</l> <lb n="p3b_015.041"/> <l>Das gelbe Röckchen decket mit dem Purpursaum,</l> </lg> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [15/0041]
p3b_015.001
15. Ein Kunstgriff ist es, daß man da, wo der Jnhalt über den p3b_015.002
Vers hinüberflutet, zur Ausfüllung der folgenden Zeile einen kurzen p3b_015.003
Satz einfügt &c.
p3b_015.004
Aufgabe. Nachfolgender Stoff ist im neuen Senarius zu p3b_015.005
geben.
p3b_015.006
Göttliche Reminiscenz.
p3b_015.007
Stoff. Vor langer Zeit sah ich ein wundersames Gemälde │ in einem p3b_015.008
Karthäuserkloster, das ich oft besuchte. │ Heute trat es mir mit frischen Farben p3b_015.009
vor die Seele, │ als ich einsam im Gebirge wandelte, │ umgeben von wild umhergeworfenen p3b_015.010
Felsentrümmern. │
p3b_015.011
An einer jähen Steinkluft, deren Saum │ von zwei Palmen überschattet p3b_015.012
│ nur wenig Gras den emporklimmenden Ziegen bietet, │ sieht man den p3b_015.013
Jesusknaben auf Steinen sitzend; │ ihm ist ein weißes Vließ als Polster untergelegt. p3b_015.014
│ Mir erschien das schöne Kind nicht allzu kindlich. │ Der heiße Sommer, p3b_015.015
welcher sicherlich sein fünfter schon war, │ hat seine, bis zum Knie herab │ von p3b_015.016
einem gelben, purpurumsäumten Röcklein │ bedeckten Glieder und seine gesunden p3b_015.017
Wangen sanft gebräunt; │ aus seinen dunklen Augen leuchtet stille Feuerkraft; p3b_015.018
│ doch den Mund umspielt ein fremder, unnennbarer Reiz. │ Ein alter p3b_015.019
Hirte, welcher sich freundlich zu dem Kinde niedergebeugt hat, │ übergab ihm p3b_015.020
soeben ein versteinertes, seltsam gestaltetes Meergewächs │ zum Zeitvertreib. │ Nachdem p3b_015.021
der Knabe das Wunderding beschaut, │ spannt sich sein weiter Blick wie p3b_015.022
betroffen │ dir entgegen, doch wirklich ohne Gegenstand, │ durchdringend ewige, p3b_015.023
grenzenlose Zeitenfernen: │ als wittre durch die überwölkte Stirn ein Blitz │ der p3b_015.024
Gottheit, ein Erinnern, das im nämlichen Augenblick erloschen sein wird; und p3b_015.025
das welterschaffende │ Wort von Anfang zeigt lächelnd als ein unwissendes, p3b_015.026
spielendes Erdenkind dir sein eigenes Werk.
p3b_015.027
Lösung. Von Mörike.
p3b_015.028
Vŏrlǟngst │ săh īch │ ĕin wūn │ dĕrsā │ mĕs Bīld │ gĕmālt, │ p3b_015.029
Jm Kloster der Karthäuser, das ich oft besucht. p3b_015.030
Heut, da ich im Gebirge droben einsam ging, p3b_015.031
Umstarrt von wild zerstreuter Felsentrümmersaat, p3b_015.032
Trat es mit frischen Farben vor die Seele mir. p3b_015.033
An jäher Steinkluft, deren dünn begraster Saum, p3b_015.034
Von zweien Palmen überschattet, magre Kost p3b_015.035
Den Ziegen beut, den steilauf weidenden am Hang, p3b_015.036
Sieht man den Knaben Jesus sitzend auf Gestein; p3b_015.037
Ein weißes Vließ als Polster ist ihm unterlegt. p3b_015.038
Nicht allzu kindlich däuchte mir das schöne Kind; p3b_015.039
Der heiße Sommer, sicherlich sein fünfter schon, p3b_015.040
Hat seine Glieder, welche bis zum Knie herab p3b_015.041
Das gelbe Röckchen decket mit dem Purpursaum,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884/41 |
Zitationshilfe: | Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884/41>, abgerufen am 16.02.2025. |