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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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Jedenfalls darf der Dichter niemals viele typische Personen neben p2b_039.002
einander stellen, während die individuelle Zeichnung keine andere Beschränkung p2b_039.003
fordert, als die der Übersichtlichkeit.

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Die Vergeistigung des rohen Stoffs zu einer poetischen Jdee zeigt folgendes p2b_039.005
Beispiel Gustav Freytags (S. 8 ff. a. a. O.): Ein junger Dichter des p2b_039.006
vorigen Jahrhunderts liest folgendes Zeitungsinserat: Stuttgart vom 11. Am p2b_039.007
gestrigen Tage fand man in der Wohnung des Musikus Kritz dessen älteste p2b_039.008
Tochter Louise und den herzoglichen Dragoner-Major Blasius von Böller tot p2b_039.009
auf dem Boden liegen. Der aufgenommene Thatbestand und die ärztliche p2b_039.010
Obduktion ergaben, daß beide durch getrunkenes Gift vom Leben gekommen p2b_039.011
waren. Man spricht von einem Liebesverhältnis, welches der Vater des Majors, p2b_039.012
der bekannte Präsident von Böller, zu beseitigen versucht habe. Das Schicksal p2b_039.013
des wegen seiner Sittsamkeit allgemein geachteten Mädchens erregt die Teilnahme p2b_039.014
aller fühlenden Seelen.

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Über diesen gegebenen Stoff bildet, durch Mitgefühl aufgeregt, die Phantasie p2b_039.016
des Dichters das Bild eines feurigen und leidenschaftlichen Jünglings, eines p2b_039.017
unschuldigen, zartfühlenden Mädchens. Der Gegensatz zwischen der Hofluft, aus p2b_039.018
welcher der Liebende hervorgetreten ist, und der engen Atmosphäre eines kleinen p2b_039.019
bürgerlichen Haushalts wird lebhaft empfunden. Der feindliche Vater wird zu p2b_039.020
einem herzlosen, ränkevollen Hofmann. Zwingend macht sich das Bedürfnis p2b_039.021
geltend, den furchtbaren Entschluß eines lebensfrischen Jünglings, der bei solchem p2b_039.022
Verhältnis von ihm ausgegangen scheint, zu erklären. Diesen innern Zusammenhang p2b_039.023
findet die schaffende Seele in einer Täuschung, dem Verdachte von der p2b_039.024
Untreue der Geliebten, welche durch den Vater in die Seele des Sohnes p2b_039.025
geworfen ist. Jn solcher Weise macht der Dichter den Bericht sich und andern p2b_039.026
verständlich, indem er, frei erfindend, einen inneren Zusammenhang hineinträgt. p2b_039.027
Es sind dem Anschein nach kleine Ergänzungen, aber sie schaffen ein ganz p2b_039.028
selbständiges Bild, welches der wirklichen Begebenheit als etwas Neues gegenübersteht, p2b_039.029
und etwa folgenden Jnhalt hat: Einem jungen Edelmann wird durch p2b_039.030
den Vater die Eifersucht gegen seine bürgerliche Geliebte so heftig aufgeregt, p2b_039.031
daß er sie und sich durch Gift tötet. Durch diese Umbildung ist ein Ereignis p2b_039.032
der Wirklichkeit zu einer dramatischen Jdee geworden. Von jetzt ab ist das p2b_039.033
wirkliche Ereignis dem Dichter unwesentlich, der Ort, die Familiennamen fallen p2b_039.034
ab; ob in der That der Hergang so war, wie der Toten und ihrer Eltern p2b_039.035
Charakter und Stellung war, kümmert durchaus nicht mehr; warme Empfindung p2b_039.036
und die erste Regung schöpferischer Kraft haben der Begebenheit einen allgemein p2b_039.037
verständlichen Jnhalt und eine innere Wahrheit gegeben. Die Voraussetzungen p2b_039.038
des Stückes sind nicht mehr zufällige und individuelle, sie könnten geradeso p2b_039.039
hundertmal wieder eintreten und bei den angenommenen Charakteren und dem p2b_039.040
gefundenen Zusammenhang würde der Ausgang immer wieder derselbe sein....

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Sogar aus dem oben erdachten Zeitungsinserat ist der beginnende Umbildungprozeß p2b_039.042
bereits erkennbar. Jn dem letzten Satz: "Man spricht von einem p2b_039.043
Liebesverhältnis, welches u. s. w." macht der Berichterstatter den ersten Versuch, p2b_039.044
die Thatsachen in eine innerlich zusammenhängende Geschichte zu wandeln, die

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Jedenfalls darf der Dichter niemals viele typische Personen neben p2b_039.002
einander stellen, während die individuelle Zeichnung keine andere Beschränkung p2b_039.003
fordert, als die der Übersichtlichkeit.

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Die Vergeistigung des rohen Stoffs zu einer poetischen Jdee zeigt folgendes p2b_039.005
Beispiel Gustav Freytags (S. 8 ff. a. a. O.): Ein junger Dichter des p2b_039.006
vorigen Jahrhunderts liest folgendes Zeitungsinserat: Stuttgart vom 11. Am p2b_039.007
gestrigen Tage fand man in der Wohnung des Musikus Kritz dessen älteste p2b_039.008
Tochter Louise und den herzoglichen Dragoner-Major Blasius von Böller tot p2b_039.009
auf dem Boden liegen. Der aufgenommene Thatbestand und die ärztliche p2b_039.010
Obduktion ergaben, daß beide durch getrunkenes Gift vom Leben gekommen p2b_039.011
waren. Man spricht von einem Liebesverhältnis, welches der Vater des Majors, p2b_039.012
der bekannte Präsident von Böller, zu beseitigen versucht habe. Das Schicksal p2b_039.013
des wegen seiner Sittsamkeit allgemein geachteten Mädchens erregt die Teilnahme p2b_039.014
aller fühlenden Seelen.

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Über diesen gegebenen Stoff bildet, durch Mitgefühl aufgeregt, die Phantasie p2b_039.016
des Dichters das Bild eines feurigen und leidenschaftlichen Jünglings, eines p2b_039.017
unschuldigen, zartfühlenden Mädchens. Der Gegensatz zwischen der Hofluft, aus p2b_039.018
welcher der Liebende hervorgetreten ist, und der engen Atmosphäre eines kleinen p2b_039.019
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Untreue der Geliebten, welche durch den Vater in die Seele des Sohnes p2b_039.025
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den Vater die Eifersucht gegen seine bürgerliche Geliebte so heftig aufgeregt, p2b_039.031
daß er sie und sich durch Gift tötet. Durch diese Umbildung ist ein Ereignis p2b_039.032
der Wirklichkeit zu einer dramatischen Jdee geworden. Von jetzt ab ist das p2b_039.033
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Charakter und Stellung war, kümmert durchaus nicht mehr; warme Empfindung p2b_039.036
und die erste Regung schöpferischer Kraft haben der Begebenheit einen allgemein p2b_039.037
verständlichen Jnhalt und eine innere Wahrheit gegeben. Die Voraussetzungen p2b_039.038
des Stückes sind nicht mehr zufällige und individuelle, sie könnten geradeso p2b_039.039
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Sogar aus dem oben erdachten Zeitungsinserat ist der beginnende Umbildungprozeß p2b_039.042
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/61>, abgerufen am 22.11.2024.