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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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wußte, hergebracht hatte, um sie mir zur Ansicht und zum Verkauf anzubieten. p2b_380.002
Vor einigen Jahren hatte ein deutscher Schreinergeselle, welcher in p2b_380.003
unserer Stube etwas zurechthämmerte, dabei von ungefähr gesagt: "Der große p2b_380.004
Goethe ist gestorben", und dies Wort klang mir immer wieder nach. "Der p2b_380.005
unbekannte Tote schritt fast durch alle Beschäftigungen und Anregungen und p2b_380.006
überall zog er angeknüpfte Fäden an sich, deren Enden in seiner unsichtbaren p2b_380.007
Hand verschwanden. Als ob ich jetzt alle diese Fäden in dem ungeschlachten p2b_380.008
Knoten der Schnur, welche die Bücher umwand, beisammen hätte, fiel ich über p2b_380.009
denselben her und begann hastig ihn aufzulösen, und als er endlich aufging, p2b_380.010
da fielen die goldenen Früchte des achtzigjährigen Lebens auf das Schönste p2b_380.011
auseinander, verbreiteten sich über das Ruhebett und fielen über dessen Rand p2b_380.012
auf den Boden, daß ich alle Hände voll zu thun hatte, den Reichtum zusammenzuhalten. p2b_380.013
Jch entfernte mich von selber Stunde an nicht mehr vom p2b_380.014
Lotterbettchen und las dreißig Tage lang, indessen es noch einmal Winter und p2b_380.015
wieder Frühling wurde; aber der weiße Schnee ging mir wie ein Traum vorüber, p2b_380.016
den ich unbeachtet von der Seite glänzen sah. Jch griff zuerst nach p2b_380.017
allem, was sich durch den Druck als dramatisch zeigte, dann las ich alles p2b_380.018
Gereimte, dann die Romane, dann die italienische Reise, und als sich der Strom p2b_380.019
hierauf in die prosaischen Gefilde des täglichen Fleißes, der Einzelmühe verlief, p2b_380.020
ließ ich das Weitere liegen und fing von vorn an und entdeckte diesmal die p2b_380.021
ganzen Sternbilder in ihren schönen Stellungen zu einander und dazwischen p2b_380.022
einzelne seltsam glänzende Sterne, wie den Reineke Fuchs oder den Benvenuto p2b_380.023
Cellini. So hatte ich noch einmal diesen Himmel durchschweift und vieles p2b_380.024
wieder doppelt gelesen und entdeckte zuletzt noch einen ganz neuen hellen Stern: p2b_380.025
Dichtung und Wahrheit. Jch war eben mit diesem zu Ende, als der Trödler p2b_380.026
hereintrat und sich erkundigte, ob ich die Werke behalten wolle, da sich sonst p2b_380.027
ein anderweitiger Käufer gezeigt habe. Unter diesen Umständen mußte der p2b_380.028
Schatz bar bezahlt werden, was jetzt über meine Kräfte ging; die Mutter p2b_380.029
sah wohl, daß er mir etwas Wichtiges war, aber mein dreißigtägiges Liegen p2b_380.030
und Lesen machte sie unentschlossen und darüber ergriff der Mann wieder seine p2b_380.031
Schnur, band die Bücher zusammen, schwang den Pack auf den Rücken und p2b_380.032
empfahl sich.

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Es war, als ob eine Schar glänzender und singender Geister die Stube p2b_380.034
verließen, so daß diese auf einmal still und leer schien; ich sprang auf, sah p2b_380.035
mich um, und würde mich wie in einem Grabe gedünkt haben, wenn nicht p2b_380.036
die Stricknadeln meiner Mutter ein freundliches Geräusch verursacht hätten. p2b_380.037
Jch machte mich ins Freie; die alte Bergstadt, Felsen, Wald, Fluß und See p2b_380.038
und das formenreiche Gebirge lagen im milden Schein der Märzsonne, und p2b_380.039
indem meine Blicke alles umfaßten, empfand ich ein reines und nachhaltiges p2b_380.040
Vergnügen, das ich früher nicht gekannt. Es war die hingebende Liebe an p2b_380.041
alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen p2b_380.042
Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet. Diese p2b_380.043
Liebe steht höher als das künstlerische Herausstehlen des Einzelnen zu eigennützigem p2b_380.044
Zwecke, welches zuletzt immer zu Kleinlichkeit und Laune führt; sie

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/402>, abgerufen am 23.11.2024.