Erstes Hauptstück. p2b_010.002 Begriff und Umkreis von Lyrik, Didaktik, Epik p2b_010.003 und Dramatik. ------
p2b_010.004
I. Lyrik.
p2b_010.005
§ 6. Begriff der Lyrik.
p2b_010.006
1. Lyrik ist die Poesie des subjektiven Gefühls, der subjektiven p2b_010.007 Empfindung, der augenblicklichen subjektiven Stimmung.
p2b_010.008 2. Jhren Namen hat sie von der Lyra (lura), einem griechischen, p2b_010.009 an die Stelle der Kithara (oder Kitharis) getretenen Saiteninstrumente, p2b_010.010 mit dessen Begleitung die subjektiven Dichtungsarten vorgetragen wurden, p2b_010.011 ähnlich wie die lyrischen Gesänge des deutschen Mittelalters mit Harfe p2b_010.012 und Geige. Die älteren Griechen bezeichneten sie als Melos.
p2b_010.013 1. Man könnte die lyrische Poesie den musikalischen Ausdruck des p2b_010.014 Gefühls in all' seinen Stimmungen nennen, einen musikalischen Ausdruck p2b_010.015 der subjektiven Empfindungen, denen die äußere Welt der Erscheinungen p2b_010.016 nur der Spiegel ist. Die Summe der Empfindungen ist die Lyrik.p2b_010.017 Die Empfindung ist gleichsam die geheimnisvoll durchdringende Macht, von p2b_010.018 welcher die Stoffe angezogen werden, wie das Eisen vom Magnet, so zwar, p2b_010.019 daß beim Anschlagen des fremden Stoffes jedesmal das Gemüt erklingt in p2b_010.020 Freude oder Schmerz, in Liebe oder Haß, in Begeisterung oder Verzweiflung, p2b_010.021 in Hoffnung oder Bangigkeit, in welcher Beziehung man von einer Lyrik der p2b_010.022 Liebe, der Freude, der Trauer, des hohen Seelenschwunges &c. reden p2b_010.023 könnte. Jedes lyrische Gedicht strömt die eigenste Empfindung des bestimmten p2b_010.024 Dichters aus. Der Lyriker, der sich nur der Außenwelt gegenüber setzt, sagt, p2b_010.025 was er selbst fühlt, was sich mit seiner Person ereignet, spricht von seinem p2b_010.026 Erlebten, doch so, daß die Thatsache des Erlebten vor der Gewalt der Stimmung p2b_010.027 zurücktritt und zu derselben schließlich höchstens in einem Verhältnis bleibt, wie p2b_010.028 der Draht zu der ihn durchzuckenden Elektrizität. Die Lyrik ist - um mit p2b_010.029 Gottschall zu reden - aus dem Bedürfnis des Gemüts hervorgegangen, sich p2b_010.030 selbst in künstlerischer Verklärung gegenwärtig zu werden. Erst wenn die
p2b_010.001
Erstes Hauptstück. p2b_010.002 Begriff und Umkreis von Lyrik, Didaktik, Epik p2b_010.003 und Dramatik. ──────
p2b_010.004
I. Lyrik.
p2b_010.005
§ 6. Begriff der Lyrik.
p2b_010.006
1. Lyrik ist die Poesie des subjektiven Gefühls, der subjektiven p2b_010.007 Empfindung, der augenblicklichen subjektiven Stimmung.
p2b_010.008 2. Jhren Namen hat sie von der Lyra (λύρα), einem griechischen, p2b_010.009 an die Stelle der Kithara (oder Kitharis) getretenen Saiteninstrumente, p2b_010.010 mit dessen Begleitung die subjektiven Dichtungsarten vorgetragen wurden, p2b_010.011 ähnlich wie die lyrischen Gesänge des deutschen Mittelalters mit Harfe p2b_010.012 und Geige. Die älteren Griechen bezeichneten sie als Melos.
p2b_010.013 1. Man könnte die lyrische Poesie den musikalischen Ausdruck des p2b_010.014 Gefühls in all' seinen Stimmungen nennen, einen musikalischen Ausdruck p2b_010.015 der subjektiven Empfindungen, denen die äußere Welt der Erscheinungen p2b_010.016 nur der Spiegel ist. Die Summe der Empfindungen ist die Lyrik.p2b_010.017 Die Empfindung ist gleichsam die geheimnisvoll durchdringende Macht, von p2b_010.018 welcher die Stoffe angezogen werden, wie das Eisen vom Magnet, so zwar, p2b_010.019 daß beim Anschlagen des fremden Stoffes jedesmal das Gemüt erklingt in p2b_010.020 Freude oder Schmerz, in Liebe oder Haß, in Begeisterung oder Verzweiflung, p2b_010.021 in Hoffnung oder Bangigkeit, in welcher Beziehung man von einer Lyrik der p2b_010.022 Liebe, der Freude, der Trauer, des hohen Seelenschwunges &c. reden p2b_010.023 könnte. Jedes lyrische Gedicht strömt die eigenste Empfindung des bestimmten p2b_010.024 Dichters aus. Der Lyriker, der sich nur der Außenwelt gegenüber setzt, sagt, p2b_010.025 was er selbst fühlt, was sich mit seiner Person ereignet, spricht von seinem p2b_010.026 Erlebten, doch so, daß die Thatsache des Erlebten vor der Gewalt der Stimmung p2b_010.027 zurücktritt und zu derselben schließlich höchstens in einem Verhältnis bleibt, wie p2b_010.028 der Draht zu der ihn durchzuckenden Elektrizität. Die Lyrik ist ─ um mit p2b_010.029 Gottschall zu reden ─ aus dem Bedürfnis des Gemüts hervorgegangen, sich p2b_010.030 selbst in künstlerischer Verklärung gegenwärtig zu werden. Erst wenn die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0032"n="E10"/></div></div><divn="2"><lbn="p2b_010.001"/><head><hirendition="#c">Erstes Hauptstück. <lbn="p2b_010.002"/>
Begriff und Umkreis von Lyrik, Didaktik, Epik <lbn="p2b_010.003"/>
und Dramatik. ──────</hi></head><lbn="p2b_010.004"/><divn="3"><head><hirendition="#c"><hirendition="#aq">I</hi>. Lyrik.</hi></head><lbn="p2b_010.005"/><divn="4"><head><hirendition="#c">§ 6. Begriff der Lyrik.</hi></head><lbn="p2b_010.006"/><p>1. Lyrik ist die Poesie des subjektiven Gefühls, der subjektiven <lbn="p2b_010.007"/>
Empfindung, der augenblicklichen subjektiven Stimmung.</p><p><lbn="p2b_010.008"/>
2. Jhren Namen hat sie von der Lyra (<foreignxml:lang="grc">λύρα</foreign>), einem griechischen, <lbn="p2b_010.009"/>
an die Stelle der Kithara (oder Kitharis) getretenen Saiteninstrumente, <lbn="p2b_010.010"/>
mit dessen Begleitung die subjektiven Dichtungsarten vorgetragen wurden, <lbn="p2b_010.011"/>
ähnlich wie die lyrischen Gesänge des deutschen Mittelalters mit Harfe <lbn="p2b_010.012"/>
und Geige. Die älteren Griechen bezeichneten sie als Melos.</p><p><lbn="p2b_010.013"/>
1. Man könnte die lyrische Poesie <hirendition="#g">den musikalischen Ausdruck des <lbn="p2b_010.014"/>
Gefühls in all' seinen Stimmungen nennen,</hi> einen musikalischen Ausdruck <lbn="p2b_010.015"/>
der subjektiven Empfindungen, denen die äußere Welt der Erscheinungen <lbn="p2b_010.016"/>
nur der Spiegel ist. <hirendition="#g">Die Summe der Empfindungen ist die Lyrik.</hi><lbn="p2b_010.017"/>
Die Empfindung ist gleichsam die geheimnisvoll durchdringende Macht, von <lbn="p2b_010.018"/>
welcher die Stoffe angezogen werden, wie das Eisen vom Magnet, so zwar, <lbn="p2b_010.019"/>
daß beim Anschlagen des fremden Stoffes jedesmal das Gemüt erklingt in <lbn="p2b_010.020"/>
Freude oder Schmerz, in Liebe oder Haß, in Begeisterung oder Verzweiflung, <lbn="p2b_010.021"/>
in Hoffnung oder Bangigkeit, in welcher Beziehung man von einer <hirendition="#g">Lyrik der <lbn="p2b_010.022"/>
Liebe, der Freude, der Trauer, des hohen Seelenschwunges</hi>&c. reden <lbn="p2b_010.023"/>
könnte. Jedes lyrische Gedicht strömt die eigenste Empfindung des bestimmten <lbn="p2b_010.024"/>
Dichters aus. Der Lyriker, der sich <hirendition="#g">nur</hi> der Außenwelt gegenüber setzt, sagt, <lbn="p2b_010.025"/>
was er selbst fühlt, was sich mit seiner Person ereignet, spricht von seinem <lbn="p2b_010.026"/>
Erlebten, doch so, daß die Thatsache des Erlebten vor der Gewalt der Stimmung <lbn="p2b_010.027"/>
zurücktritt und zu derselben schließlich höchstens in einem Verhältnis bleibt, wie <lbn="p2b_010.028"/>
der Draht zu der ihn durchzuckenden Elektrizität. Die Lyrik ist ─ um mit <lbn="p2b_010.029"/>
Gottschall zu reden ─ aus dem Bedürfnis des Gemüts hervorgegangen, sich <lbn="p2b_010.030"/>
selbst in künstlerischer Verklärung gegenwärtig zu werden. Erst wenn die
</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[E10/0032]
p2b_010.001
Erstes Hauptstück. p2b_010.002
Begriff und Umkreis von Lyrik, Didaktik, Epik p2b_010.003
und Dramatik. ────── p2b_010.004
I. Lyrik. p2b_010.005
§ 6. Begriff der Lyrik. p2b_010.006
1. Lyrik ist die Poesie des subjektiven Gefühls, der subjektiven p2b_010.007
Empfindung, der augenblicklichen subjektiven Stimmung.
p2b_010.008
2. Jhren Namen hat sie von der Lyra (λύρα), einem griechischen, p2b_010.009
an die Stelle der Kithara (oder Kitharis) getretenen Saiteninstrumente, p2b_010.010
mit dessen Begleitung die subjektiven Dichtungsarten vorgetragen wurden, p2b_010.011
ähnlich wie die lyrischen Gesänge des deutschen Mittelalters mit Harfe p2b_010.012
und Geige. Die älteren Griechen bezeichneten sie als Melos.
p2b_010.013
1. Man könnte die lyrische Poesie den musikalischen Ausdruck des p2b_010.014
Gefühls in all' seinen Stimmungen nennen, einen musikalischen Ausdruck p2b_010.015
der subjektiven Empfindungen, denen die äußere Welt der Erscheinungen p2b_010.016
nur der Spiegel ist. Die Summe der Empfindungen ist die Lyrik. p2b_010.017
Die Empfindung ist gleichsam die geheimnisvoll durchdringende Macht, von p2b_010.018
welcher die Stoffe angezogen werden, wie das Eisen vom Magnet, so zwar, p2b_010.019
daß beim Anschlagen des fremden Stoffes jedesmal das Gemüt erklingt in p2b_010.020
Freude oder Schmerz, in Liebe oder Haß, in Begeisterung oder Verzweiflung, p2b_010.021
in Hoffnung oder Bangigkeit, in welcher Beziehung man von einer Lyrik der p2b_010.022
Liebe, der Freude, der Trauer, des hohen Seelenschwunges &c. reden p2b_010.023
könnte. Jedes lyrische Gedicht strömt die eigenste Empfindung des bestimmten p2b_010.024
Dichters aus. Der Lyriker, der sich nur der Außenwelt gegenüber setzt, sagt, p2b_010.025
was er selbst fühlt, was sich mit seiner Person ereignet, spricht von seinem p2b_010.026
Erlebten, doch so, daß die Thatsache des Erlebten vor der Gewalt der Stimmung p2b_010.027
zurücktritt und zu derselben schließlich höchstens in einem Verhältnis bleibt, wie p2b_010.028
der Draht zu der ihn durchzuckenden Elektrizität. Die Lyrik ist ─ um mit p2b_010.029
Gottschall zu reden ─ aus dem Bedürfnis des Gemüts hervorgegangen, sich p2b_010.030
selbst in künstlerischer Verklärung gegenwärtig zu werden. Erst wenn die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. E10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/32>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.