Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_258.001 p2b_258.016 p2b_258.024 p2b_258.030 p2b_258.032 Der Wolf und die Nachtigall, von E. M. Arndt. p2b_258.034 Jch weiß es wohl, wo steht ein Schloß, das ist geschmückt so feine p2b_258.036 Mit Silber und mit rotem Gold', gebaut von Marmelsteine. p2b_258.037 Und in dem Schloß' eine Linde stand, mit Blättern, lustig und schöne, p2b_258.038 Drin wohnte eine Nachtigall fein, die schlug gar liebliche Töne. p2b_258.039
Es kam ein Ritter geritten daher, süß klang es vom Nachtigallmunde, p2b_258.040 Worüber er höchlich wunderte sich - es war um die Mitternachtstunde. p2b_258.041 "Ach höre, du kleine Nachtigall, woll'st mir ein Liedlein singen, p2b_258.042 Deine Federn lass' ich beschlagen mit Gold', deinen Hals mit Perlen beringen." p2b_258.001 p2b_258.016 p2b_258.024 p2b_258.030 p2b_258.032 Der Wolf und die Nachtigall, von E. M. Arndt. p2b_258.034 Jch weiß es wohl, wo steht ein Schloß, das ist geschmückt so feine p2b_258.036 Mit Silber und mit rotem Gold', gebaut von Marmelsteine. p2b_258.037 Und in dem Schloß' eine Linde stand, mit Blättern, lustig und schöne, p2b_258.038 Drin wohnte eine Nachtigall fein, die schlug gar liebliche Töne. p2b_258.039
Es kam ein Ritter geritten daher, süß klang es vom Nachtigallmunde, p2b_258.040 Worüber er höchlich wunderte sich ─ es war um die Mitternachtstunde. p2b_258.041 „Ach höre, du kleine Nachtigall, woll'st mir ein Liedlein singen, p2b_258.042 Deine Federn lass' ich beschlagen mit Gold', deinen Hals mit Perlen beringen.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0280" n="258"/> <p><lb n="p2b_258.001"/> Doch wünschen wir nicht etwa bloß Moralisches, Moralisierendes. Alles <lb n="p2b_258.002"/> Kindliche, alles Keusche, was vom reinen Hauch edler Poesie durchweht ist, <lb n="p2b_258.003"/> paßt auch für das reine Kinderherz. Das gut gebildete Kindermärchen zeichnet <lb n="p2b_258.004"/> sich durch Einfalt und Naivetät des kindlichen Sinnes aus; sein feiner Takt, <lb n="p2b_258.005"/> sein gesundes, sittliches Gefühl, seine ungeschminkte Natürlichkeit fesseln, wie <lb n="p2b_258.006"/> das naive Volkslied. Als Beispiele desselben erwähne ich unter anderen Rückerts <lb n="p2b_258.007"/> Kindermärchen, die bei kindlichem Jnhalt und schöner Form nie den Charakter <lb n="p2b_258.008"/> des Erdichteten verlieren, dabei aber auch nie das moralische Prinzip außer <lb n="p2b_258.009"/> acht lassen. Sie sind nicht läppisch und kindisch, sondern kindlich. Die <hi rendition="#g">beabsichtigte</hi> <lb n="p2b_258.010"/> Moral sieht das Kind nicht, sondern ahnt und fühlt sie unbewußt; <lb n="p2b_258.011"/> sie folgt, wie die Belohnung auf eine gute That. Außerdem sind es das dramatische <lb n="p2b_258.012"/> Element der Behandlung, die Gesprächsform und der, ich möchte sagen, <lb n="p2b_258.013"/> naive Rhythmus der Rückertschen Märchen, welche von vornherein das Jnteresse <lb n="p2b_258.014"/> des Kindes erwecken und auch die <hi rendition="#g">Moral</hi> dem kindlichen Gedächtnis auf's <lb n="p2b_258.015"/> tiefste einprägen.</p> <p><lb n="p2b_258.016"/> 7. Das Märchen kann die stoffliche Grundlage anderer Dichtungsformen sein, <lb n="p2b_258.017"/> z. B. der Novelle. (Man vgl. Chamissos Peter Schlemihl, oder Tiecks Der blonde <lb n="p2b_258.018"/> Eckbert und der getreue Eckart.) Zu <hi rendition="#g">dramatischer</hi> Form hat es sich öfters <lb n="p2b_258.019"/> aufgeschwungen, z. B. Rotkäppchen, der gestiefelte Kater und Blaubart, von <lb n="p2b_258.020"/> Tieck. Das beste in dieser Richtung ist wohl die Bearbeitung der Fouqu<hi rendition="#aq">é</hi>schen <lb n="p2b_258.021"/> Undine zur Oper, welche die Jdee trägt, daß Liebe die Natur beseelt, daß <lb n="p2b_258.022"/> dem bloß lebensfrohen, natürlichen Menschen erst die Liebe die Tiefen seines <lb n="p2b_258.023"/> Gemütes öffnet &c.</p> <p><lb n="p2b_258.024"/> Tritt das Märchen als selbständige Dichtungsart auf, so kann es, wie <lb n="p2b_258.025"/> z. B. Rückerts Kindermärchen (Ges. Ausg. <hi rendition="#aq">III</hi>. 3 ff.), L. Wieses Kindermärchen, <lb n="p2b_258.026"/> O. v. Redwitz' Märchen vom Waldbächlein und Tannenbaum, Chamissos <lb n="p2b_258.027"/> Abdallah, K. Stelters Märchen u. a. in <hi rendition="#g">metrischer</hi> Form, oder wie <lb n="p2b_258.028"/> Grimms Kinder- und Hausmärchen u. a. auch in ungebundener Rede verfaßt <lb n="p2b_258.029"/> sein.</p> <p><lb n="p2b_258.030"/> Dadurch, daß eine bestimmte Jdee untergelegt ist, wird das Märchen <lb n="p2b_258.031"/> <hi rendition="#g">Kunstpoesie.</hi></p> <p> <lb n="p2b_258.032"/> <hi rendition="#g">Beispiele des Märchens.</hi> </p> <lb n="p2b_258.033"/> <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Der Wolf und die Nachtigall, von</hi> E. M. <hi rendition="#g">Arndt.</hi> <lb n="p2b_258.034"/> (Schwedisches Volksmärchen.)</hi> </p> <lb n="p2b_258.035"/> <lg> <l> Jch weiß es wohl, wo steht ein Schloß, das ist geschmückt so feine</l> <lb n="p2b_258.036"/> <l>Mit Silber und mit rotem Gold', gebaut von Marmelsteine.</l> <lb n="p2b_258.037"/> <l>Und in dem Schloß' eine Linde stand, mit Blättern, lustig und schöne,</l> <lb n="p2b_258.038"/> <l>Drin wohnte eine Nachtigall fein, die schlug gar liebliche Töne. </l> </lg> <lg> <lb n="p2b_258.039"/> <l> Es kam ein Ritter geritten daher, süß klang es vom Nachtigallmunde,</l> <lb n="p2b_258.040"/> <l>Worüber er höchlich wunderte sich ─ es war um die Mitternachtstunde.</l> <lb n="p2b_258.041"/> <l>„Ach höre, du kleine Nachtigall, woll'st mir ein Liedlein singen,</l> <lb n="p2b_258.042"/> <l>Deine Federn lass' ich beschlagen mit Gold', deinen Hals mit Perlen beringen.“</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [258/0280]
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Doch wünschen wir nicht etwa bloß Moralisches, Moralisierendes. Alles p2b_258.002
Kindliche, alles Keusche, was vom reinen Hauch edler Poesie durchweht ist, p2b_258.003
paßt auch für das reine Kinderherz. Das gut gebildete Kindermärchen zeichnet p2b_258.004
sich durch Einfalt und Naivetät des kindlichen Sinnes aus; sein feiner Takt, p2b_258.005
sein gesundes, sittliches Gefühl, seine ungeschminkte Natürlichkeit fesseln, wie p2b_258.006
das naive Volkslied. Als Beispiele desselben erwähne ich unter anderen Rückerts p2b_258.007
Kindermärchen, die bei kindlichem Jnhalt und schöner Form nie den Charakter p2b_258.008
des Erdichteten verlieren, dabei aber auch nie das moralische Prinzip außer p2b_258.009
acht lassen. Sie sind nicht läppisch und kindisch, sondern kindlich. Die beabsichtigte p2b_258.010
Moral sieht das Kind nicht, sondern ahnt und fühlt sie unbewußt; p2b_258.011
sie folgt, wie die Belohnung auf eine gute That. Außerdem sind es das dramatische p2b_258.012
Element der Behandlung, die Gesprächsform und der, ich möchte sagen, p2b_258.013
naive Rhythmus der Rückertschen Märchen, welche von vornherein das Jnteresse p2b_258.014
des Kindes erwecken und auch die Moral dem kindlichen Gedächtnis auf's p2b_258.015
tiefste einprägen.
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7. Das Märchen kann die stoffliche Grundlage anderer Dichtungsformen sein, p2b_258.017
z. B. der Novelle. (Man vgl. Chamissos Peter Schlemihl, oder Tiecks Der blonde p2b_258.018
Eckbert und der getreue Eckart.) Zu dramatischer Form hat es sich öfters p2b_258.019
aufgeschwungen, z. B. Rotkäppchen, der gestiefelte Kater und Blaubart, von p2b_258.020
Tieck. Das beste in dieser Richtung ist wohl die Bearbeitung der Fouquéschen p2b_258.021
Undine zur Oper, welche die Jdee trägt, daß Liebe die Natur beseelt, daß p2b_258.022
dem bloß lebensfrohen, natürlichen Menschen erst die Liebe die Tiefen seines p2b_258.023
Gemütes öffnet &c.
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Tritt das Märchen als selbständige Dichtungsart auf, so kann es, wie p2b_258.025
z. B. Rückerts Kindermärchen (Ges. Ausg. III. 3 ff.), L. Wieses Kindermärchen, p2b_258.026
O. v. Redwitz' Märchen vom Waldbächlein und Tannenbaum, Chamissos p2b_258.027
Abdallah, K. Stelters Märchen u. a. in metrischer Form, oder wie p2b_258.028
Grimms Kinder- und Hausmärchen u. a. auch in ungebundener Rede verfaßt p2b_258.029
sein.
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Dadurch, daß eine bestimmte Jdee untergelegt ist, wird das Märchen p2b_258.031
Kunstpoesie.
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Beispiele des Märchens.
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Der Wolf und die Nachtigall, von E. M. Arndt. p2b_258.034
(Schwedisches Volksmärchen.)
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Jch weiß es wohl, wo steht ein Schloß, das ist geschmückt so feine p2b_258.036
Mit Silber und mit rotem Gold', gebaut von Marmelsteine. p2b_258.037
Und in dem Schloß' eine Linde stand, mit Blättern, lustig und schöne, p2b_258.038
Drin wohnte eine Nachtigall fein, die schlug gar liebliche Töne.
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Es kam ein Ritter geritten daher, süß klang es vom Nachtigallmunde, p2b_258.040
Worüber er höchlich wunderte sich ─ es war um die Mitternachtstunde. p2b_258.041
„Ach höre, du kleine Nachtigall, woll'st mir ein Liedlein singen, p2b_258.042
Deine Federn lass' ich beschlagen mit Gold', deinen Hals mit Perlen beringen.“
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