Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_168.001 p2b_168.004 p2b_168.025 a. Die Königswahl der Bäume. Aus dem Buche der Richter von p2b_168.027 Es wollten einst die Bäume p2b_168.029
Sich einen König wählen. p2b_168.030 Sie sprachen zu dem Ölbaum: p2b_168.031 "Sei König über uns! p2b_168.032 Wir wollen unter Deinem Schirme leben." p2b_168.033 Der Ölbaum aber sprach: p2b_168.034 "Soll ich lassen von meiner Fettigkeit, p2b_168.035 Die mir so großen Ruhm verleiht, p2b_168.036 Um über Euch im Luftrevier zu schweben?" p2b_168.037 Da sprachen sie, die Bäume, p2b_168.038 Zum Feigenbaum: "Wohlan, p2b_168.039 So sollst Du uns befehlen!" p2b_168.040 Es sprach jedoch der Feigenbaum: p2b_168.041 "Soll ich lassen von meiner Süße, p2b_168.042 Von meiner Früchte Köstlichkeit, p2b_168.043 Die alle loben weit und breit, p2b_168.044 Solch einen luftigen Herrscher abzugeben?" p2b_168.045 Da sprachen sie, die Bäume, zu dem Weinstock: p2b_168.046 "So sei Du unser Herr und Hort!" p2b_168.047 Der Weinstock aber sprach: p2b_168.001 p2b_168.004 p2b_168.025 a. Die Königswahl der Bäume. Aus dem Buche der Richter von p2b_168.027 Es wollten einst die Bäume p2b_168.029
Sich einen König wählen. p2b_168.030 Sie sprachen zu dem Ölbaum: p2b_168.031 „Sei König über uns! p2b_168.032 Wir wollen unter Deinem Schirme leben.“ p2b_168.033 Der Ölbaum aber sprach: p2b_168.034 „Soll ich lassen von meiner Fettigkeit, p2b_168.035 Die mir so großen Ruhm verleiht, p2b_168.036 Um über Euch im Luftrevier zu schweben?“ p2b_168.037 Da sprachen sie, die Bäume, p2b_168.038 Zum Feigenbaum: „Wohlan, p2b_168.039 So sollst Du uns befehlen!“ p2b_168.040 Es sprach jedoch der Feigenbaum: p2b_168.041 „Soll ich lassen von meiner Süße, p2b_168.042 Von meiner Früchte Köstlichkeit, p2b_168.043 Die alle loben weit und breit, p2b_168.044 Solch einen luftigen Herrscher abzugeben?“ p2b_168.045 Da sprachen sie, die Bäume, zu dem Weinstock: p2b_168.046 „So sei Du unser Herr und Hort!“ p2b_168.047 Der Weinstock aber sprach: <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0190" n="168"/><lb n="p2b_168.001"/> Zustand, wie dieser auch für weitere Zeiten, noch über die Gegenwart hinausreichend, <lb n="p2b_168.002"/> als zutreffend erscheint. Jhr Zweck ist somit symbolisch vorgeführte <lb n="p2b_168.003"/> Belehrung.</p> <p><lb n="p2b_168.004"/> 2. Lehre und einkleidende Anschauung unterscheiden die Parabel von der <lb n="p2b_168.005"/> Fabel. Während die Fabel, auf einer niederen Stufe des Lehrhaften stehend, <lb n="p2b_168.006"/> eine wenig anspruchsvolle Form hat, ist die Parabel für sittliche Lehren von <lb n="p2b_168.007"/> höherer Bedeutung bestimmt und daher einer mehr künstlerischen oder im Sinn <lb n="p2b_168.008"/> des § 116 (Bd. <hi rendition="#aq">I</hi>.) metrisch freien Form fähig. (Vgl. unten Beispiel <hi rendition="#aq">a</hi>.) <lb n="p2b_168.009"/> Bei der Lehre, welche die <hi rendition="#g">Fabel</hi> giebt, ist es meist ganz gleichgültig, ob das <lb n="p2b_168.010"/> Tier ein Fuchs oder ein Wolf, ob der Baum ein Apfelbaum oder ein <lb n="p2b_168.011"/> Birnbaum, oder eine Eiche ist; bei der Parabel besteht eine bestimmte Wirklichkeit: <lb n="p2b_168.012"/> die Wirklichkeit menschlicher Verhältnisse, weshalb sie eine höhere Stufe <lb n="p2b_168.013"/> nach Form und Lehre einnimmt, als die Fabel. Mit der Fabel hat die Parabel <lb n="p2b_168.014"/> gemein, daß sie irgend eine Wahrheit von allgemeiner Bedeutung durch eine <lb n="p2b_168.015"/> Erdichtung zur Anschauung bringt. Von ihr unterscheidet sie sich jedoch dadurch, <lb n="p2b_168.016"/> daß die durch sie ausgesprochene Wahrheit eben dem <hi rendition="#g">höheren Geistesleben</hi> <lb n="p2b_168.017"/> angehört und die Auftretenden daher am liebsten Menschen selbst sind. <lb n="p2b_168.018"/> Nur <hi rendition="#g">ausnahmsweise</hi> werden Tiere als Symbole gebraucht; in diesem <lb n="p2b_168.019"/> Falle aber nur edlere Tiere: Löwe, Elephant, Pferd, Kamel. Von der <lb n="p2b_168.020"/> <hi rendition="#g">Allegorie</hi> (einer Reihe symbolischer Bezeichnungen) unterscheidet sich die <lb n="p2b_168.021"/> Parabel dadurch, daß jene nur einen <hi rendition="#g">Zustand</hi> durch Bilder in ein klares <lb n="p2b_168.022"/> Licht setzen will, diese aber eine <hi rendition="#g">höhere Wahrheit</hi> im Bilde anschaulich <lb n="p2b_168.023"/> macht. Während man daher bei der Allegorie schließlich nur eine Beschreibung <lb n="p2b_168.024"/> erhält, hat man bei der Parabel eine Belehrung.</p> <p> <lb n="p2b_168.025"/> <hi rendition="#g">Beispiele der Parabel.</hi> </p> <lb n="p2b_168.026"/> <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">a</hi>. <hi rendition="#g">Die Königswahl der Bäume.</hi> Aus dem Buche der Richter von <lb n="p2b_168.027"/> <hi rendition="#g">Amara George.</hi> (Aus Mythoterpe. 1858. 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Zustand, wie dieser auch für weitere Zeiten, noch über die Gegenwart hinausreichend, p2b_168.002
als zutreffend erscheint. Jhr Zweck ist somit symbolisch vorgeführte p2b_168.003
Belehrung.
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2. Lehre und einkleidende Anschauung unterscheiden die Parabel von der p2b_168.005
Fabel. Während die Fabel, auf einer niederen Stufe des Lehrhaften stehend, p2b_168.006
eine wenig anspruchsvolle Form hat, ist die Parabel für sittliche Lehren von p2b_168.007
höherer Bedeutung bestimmt und daher einer mehr künstlerischen oder im Sinn p2b_168.008
des § 116 (Bd. I.) metrisch freien Form fähig. (Vgl. unten Beispiel a.) p2b_168.009
Bei der Lehre, welche die Fabel giebt, ist es meist ganz gleichgültig, ob das p2b_168.010
Tier ein Fuchs oder ein Wolf, ob der Baum ein Apfelbaum oder ein p2b_168.011
Birnbaum, oder eine Eiche ist; bei der Parabel besteht eine bestimmte Wirklichkeit: p2b_168.012
die Wirklichkeit menschlicher Verhältnisse, weshalb sie eine höhere Stufe p2b_168.013
nach Form und Lehre einnimmt, als die Fabel. Mit der Fabel hat die Parabel p2b_168.014
gemein, daß sie irgend eine Wahrheit von allgemeiner Bedeutung durch eine p2b_168.015
Erdichtung zur Anschauung bringt. Von ihr unterscheidet sie sich jedoch dadurch, p2b_168.016
daß die durch sie ausgesprochene Wahrheit eben dem höheren Geistesleben p2b_168.017
angehört und die Auftretenden daher am liebsten Menschen selbst sind. p2b_168.018
Nur ausnahmsweise werden Tiere als Symbole gebraucht; in diesem p2b_168.019
Falle aber nur edlere Tiere: Löwe, Elephant, Pferd, Kamel. Von der p2b_168.020
Allegorie (einer Reihe symbolischer Bezeichnungen) unterscheidet sich die p2b_168.021
Parabel dadurch, daß jene nur einen Zustand durch Bilder in ein klares p2b_168.022
Licht setzen will, diese aber eine höhere Wahrheit im Bilde anschaulich p2b_168.023
macht. Während man daher bei der Allegorie schließlich nur eine Beschreibung p2b_168.024
erhält, hat man bei der Parabel eine Belehrung.
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Beispiele der Parabel.
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a. Die Königswahl der Bäume. Aus dem Buche der Richter von p2b_168.027
Amara George. (Aus Mythoterpe. 1858. S. 406.)
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Es wollten einst die Bäume p2b_168.029
Sich einen König wählen. p2b_168.030
Sie sprachen zu dem Ölbaum: p2b_168.031
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Der Ölbaum aber sprach: p2b_168.034
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Es sprach jedoch der Feigenbaum: p2b_168.041
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Der Weinstock aber sprach:
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