Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.p1b_608.001 a. Ez wuohs in EIrlande | ein reicher künic her, (== hehr) p1b_608.003 p1b_608.007geheizen was er Sigebant, | sein vater der hiess Ger; p1b_608.004 sein muoter diu hiez Uote | und was ein küniginne. p1b_608.005 durch ir hohe tugende | son gezanm dem reinchen wol ir minne. p1b_608.006 (== ob ihrer hohen Tugenden | geziemte wohl dem Reichen ihre Minne.) b. Daz kom an einem abent, | daz in so gelanc, p1b_608.008 daz von Tenemarke | der küene degen sanc p1b_608.009 mit so herleicher stimme, | daz ez wol gevallen p1b_608.010 muose al den liuten: | da von gesweic der vogelleine schallen. p1b_608.011 ('S war einst am Sommerabend und über Heid und Meer p1b_608.012 Zog still der Mond herüber mit seinem Sternenheer; p1b_608.013 Da saß im Thor des Schlosses auf einer steinernen Bank p1b_608.014 Horant von Dänemarke, der kühne Held und sang. p1b_608.015 Er lockt aus seinem Munde den Klang so süß hervor, p1b_608.016 Daß es wie Zauber erfaßte der Leute Herz und Ohr; p1b_608.017 Ja, also hehr und herrlich war seiner Töne Sieg, p1b_608.018 Daß selbst davor im Walde das Lied der Vögel schwieg.) p1b_608.019 p1b_608.023 § 193. Übervierzeilige Strophen der Minnesinger. p1b_608.024 Begründung der Strophik durch die Kunstpoesie. p1b_608.025 p1b_608.029 p1b_608.033 p1b_608.001 a. Ez wuohs in Îrlande │ ein rîcher kǘnic hêr, (== hehr) p1b_608.003 p1b_608.007geheizen was er Sigebant, │ sîn váter dér hiess Gêr; p1b_608.004 sîn muoter díu hiez Uote │ und wás ein küniginne. p1b_608.005 durch ir hôhe tugende │ sô̄ gezâ̄m dem rî̄chen wṓl ir mīnne. p1b_608.006 (== ob ihrer hohen Tugenden │ gezīemte wōhl dem Rēichen īhre Mīnne.) b. Daz kom an einem âbent, │ daz in sô gelanc, p1b_608.008 daz von Tenemarke │ der küene degen sanc p1b_608.009 mit sô hêrlîcher stimme, │ daz ez wol gevallen p1b_608.010 muose al den liuten: │ dâ von gesweic der vogellîne schallen. p1b_608.011 ('S war einst am Sommerabend und über Heid und Meer p1b_608.012 Zog still der Mond herüber mit seinem Sternenheer; p1b_608.013 Da saß im Thor des Schlosses auf einer steinernen Bank p1b_608.014 Horant von Dänemarke, der kühne Held und sang. p1b_608.015 Er lockt aus seinem Munde den Klang so süß hervor, p1b_608.016 Daß es wie Zauber erfaßte der Leute Herz und Ohr; p1b_608.017 Ja, also hehr und herrlich war seiner Töne Sieg, p1b_608.018 Daß selbst davor im Walde das Lied der Vögel schwieg.) p1b_608.019 p1b_608.023 § 193. 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Verszeile gänzlich beseitigt hat u. A. m.)</p> </div> <div n="4"> <lb n="p1b_608.023"/> <head> <hi rendition="#c">§ 193. Übervierzeilige Strophen der Minnesinger. <lb n="p1b_608.024"/> Begründung der Strophik durch die Kunstpoesie.</hi> </head> <p><lb n="p1b_608.025"/> 1. Durch Einführung der überschlagenden Reime im 13. Jahrhundert <lb n="p1b_608.026"/> begann die Bildung der kunstvollen Strophik, welche durch Anwendung <lb n="p1b_608.027"/> aller möglichen Reimformen, durch mannigfachen Reimwechsel, durch <lb n="p1b_608.028"/> Reimverschlingungen und =wiederholungen zur höchsten Blüte gelangte.</p> <p><lb n="p1b_608.029"/> 2. Die Minnesinger nannten die Strophen der einzelnen Dichter <lb n="p1b_608.030"/> Töne, welche die Meistersänger weiter ausführten und ihnen allerlei <lb n="p1b_608.031"/> wunderliche, zum Teil abgeschmackte, handwerksmäßige Namen gaben. <lb n="p1b_608.032"/> Nithart (1217─1230) nannte seine Strophen Reihen.</p> <p><lb n="p1b_608.033"/> 1. Seit Kürenberg und dem Meister deutscher Form, Heinrich von Veldeke, <lb n="p1b_608.034"/> (§ 144. S. 475) begann die Kunstpoesie sich von der Volkspoesie zu trennen. <lb n="p1b_608.035"/> Die Kunstpoesie verband bald genug auch die ungleichartigen Verse und Reime <lb n="p1b_608.036"/> miteinander und ineinander. Sie gab dadurch die Einfachheit der Naturpoesie <lb n="p1b_608.037"/> mit ihren kunstlosen Reimpaaren auf und begründete durch Verkettung und <lb n="p1b_608.038"/> Verschlingung der Verse in überschlagenden Reimen die geregelte, <hi rendition="#g">komplizierte <lb n="p1b_608.039"/> und gleichmäßige Strophik.</hi></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [608/0642]
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Beispiele:
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a.
Ez wuohs in Îrlande │ ein rîcher kǘnic hêr, (== hehr) p1b_608.003
geheizen was er Sigebant, │ sîn váter dér hiess Gêr; p1b_608.004
sîn muoter díu hiez Uote │ und wás ein küniginne. p1b_608.005
durch ir hôhe tugende │ sô̄ gezâ̄m dem rî̄chen wṓl ir mīnne. p1b_608.006
(== ob ihrer hohen Tugenden │ gezīemte wōhl dem Rēichen īhre Mīnne.)
p1b_608.007
b.
Daz kom an einem âbent, │ daz in sô gelanc, p1b_608.008
daz von Tenemarke │ der küene degen sanc p1b_608.009
mit sô hêrlîcher stimme, │ daz ez wol gevallen p1b_608.010
muose al den liuten: │ dâ von gesweic der vogellîne schallen.
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('S war einst am Sommerabend und über Heid und Meer p1b_608.012
Zog still der Mond herüber mit seinem Sternenheer; p1b_608.013
Da saß im Thor des Schlosses auf einer steinernen Bank p1b_608.014
Horant von Dänemarke, der kühne Held und sang.
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Er lockt aus seinem Munde den Klang so süß hervor, p1b_608.016
Daß es wie Zauber erfaßte der Leute Herz und Ohr; p1b_608.017
Ja, also hehr und herrlich war seiner Töne Sieg, p1b_608.018
Daß selbst davor im Walde das Lied der Vögel schwieg.)
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(Wir beschränken uns darauf, aus der Übersetzung Karl Barthels lediglich p1b_608.020
die Übertragung des Beispiels b herzuschreiben, um ersehen zu lassen, p1b_608.021
wie der Übersetzer das schöne strophische Charakteristikum der verlängerten p1b_608.022
4. Verszeile gänzlich beseitigt hat u. A. m.)
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§ 193. Übervierzeilige Strophen der Minnesinger. p1b_608.024
Begründung der Strophik durch die Kunstpoesie. p1b_608.025
1. Durch Einführung der überschlagenden Reime im 13. Jahrhundert p1b_608.026
begann die Bildung der kunstvollen Strophik, welche durch Anwendung p1b_608.027
aller möglichen Reimformen, durch mannigfachen Reimwechsel, durch p1b_608.028
Reimverschlingungen und =wiederholungen zur höchsten Blüte gelangte.
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2. Die Minnesinger nannten die Strophen der einzelnen Dichter p1b_608.030
Töne, welche die Meistersänger weiter ausführten und ihnen allerlei p1b_608.031
wunderliche, zum Teil abgeschmackte, handwerksmäßige Namen gaben. p1b_608.032
Nithart (1217─1230) nannte seine Strophen Reihen.
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1. Seit Kürenberg und dem Meister deutscher Form, Heinrich von Veldeke, p1b_608.034
(§ 144. S. 475) begann die Kunstpoesie sich von der Volkspoesie zu trennen. p1b_608.035
Die Kunstpoesie verband bald genug auch die ungleichartigen Verse und Reime p1b_608.036
miteinander und ineinander. Sie gab dadurch die Einfachheit der Naturpoesie p1b_608.037
mit ihren kunstlosen Reimpaaren auf und begründete durch Verkettung und p1b_608.038
Verschlingung der Verse in überschlagenden Reimen die geregelte, komplizierte p1b_608.039
und gleichmäßige Strophik.
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