Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.p1b_485.001 Rekapitulation. p1b_485.007 p1b_485.014 Anmutig werden selbst alltägliche Sentenzen p1b_485.017 p1b_485.018Jm Silberwasserfall melodischer Kadenzen. (Weisheit des Brahm. I. 58.) p1b_485.019 Was sich läßt in Prosa schreiben, p1b_485.021 Sollt ihr nicht zum Verse treiben, p1b_485.022 Laßt vergebne Mühe bleiben! p1b_485.023 Die historische Romanze, p1b_485.024 Einzeln oder gar im Kranze, p1b_485.025 Jst nicht meine Lieblingspflanze. p1b_485.026 Und wer bannt in Reimes Schranken p1b_485.027 Philosophische Gedanken, p1b_485.028 Dem werd ich's noch minder danken. p1b_485.029 Doch, ich fürchte, meine Sprüche, p1b_485.030 Stammend aus derselben Küche, p1b_485.031 Gehn somit auch in die Brüche. p1b_485.032 Nein, sie sind zur Form geboren: p1b_485.033 Wo sie nicht die Form erkoren, p1b_485.034 Wär' ihr Jnhalt mit verloren. p1b_485.035 Darum muß der Reim sie ketten, p1b_485.036 Weil sie sonst kein Wesen hätten, p1b_485.037 Würde nicht der Reim es retten. p1b_485.038 Manches scheint in Versen eigen, p1b_485.039 Was man würd' als Nichts verschweigen, p1b_485.040 Sollte man's in Prosa zeigen. p1b_485.041 p1b_485.001 Rekapitulation. p1b_485.007 p1b_485.014 Anmutig werden selbst alltägliche Sentenzen p1b_485.017 p1b_485.018Jm Silberwasserfall melodischer Kadenzen. (Weisheit des Brahm. I. 58.) p1b_485.019 Was sich läßt in Prosa schreiben, p1b_485.021 Sollt ihr nicht zum Verse treiben, p1b_485.022 Laßt vergebne Mühe bleiben! p1b_485.023 Die historische Romanze, p1b_485.024 Einzeln oder gar im Kranze, p1b_485.025 Jst nicht meine Lieblingspflanze. p1b_485.026 Und wer bannt in Reimes Schranken p1b_485.027 Philosophische Gedanken, p1b_485.028 Dem werd ich's noch minder danken. p1b_485.029 Doch, ich fürchte, meine Sprüche, p1b_485.030 Stammend aus derselben Küche, p1b_485.031 Gehn somit auch in die Brüche. p1b_485.032 Nein, sie sind zur Form geboren: p1b_485.033 Wo sie nicht die Form erkoren, p1b_485.034 Wär' ihr Jnhalt mit verloren. p1b_485.035 Darum muß der Reim sie ketten, p1b_485.036 Weil sie sonst kein Wesen hätten, p1b_485.037 Würde nicht der Reim es retten. p1b_485.038 Manches scheint in Versen eigen, p1b_485.039 Was man würd' als Nichts verschweigen, p1b_485.040 Sollte man's in Prosa zeigen. p1b_485.041 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0519" n="485"/> <p><lb n="p1b_485.001"/> Für diese Art von Dichtungen, die Widersprüche einander gegenüber <lb n="p1b_485.002"/> stellen, paßt der gleichsam in seiner eigenen Parodie erscheinende Reim, der <lb n="p1b_485.003"/> die poetische Form mit dem prosaischen Stoff verbindet. Selbstverständlich sind <lb n="p1b_485.004"/> in dieser Verbindung Rhythmus und Reim oft gezwungen, willkürlich und spröde, <lb n="p1b_485.005"/> doch würden reine Formen zu dem komischen, losen Jnhalte wenig passen.</p> <lb n="p1b_485.006"/> <p> <hi rendition="#c">Rekapitulation.</hi> </p> <p><lb n="p1b_485.007"/> Fassen wir Alles zusammen, was für Würdigung des heutigen Reimes <lb n="p1b_485.008"/> im Gegensatz zum Otfriedschen Reim in Betracht kommt, so erhellt, daß <hi rendition="#g">derselbe <lb n="p1b_485.009"/> nach und nach eine hohe Zierde der deutschen Rede geworden <lb n="p1b_485.010"/> ist,</hi> ebenso daß <hi rendition="#g">er durch inhaltliche Verbindung zweier <lb n="p1b_485.011"/> zusammengehöriger Verse nunmehr zur Gliederung und Einprägung <lb n="p1b_485.012"/> des Gedichts beiträgt, daß er den ästhetischen Genuß erhöht <lb n="p1b_485.013"/> und vollen Zauber sprachlicher Schönheit erschließt.</hi> (Vgl. S. 389 d. B.)</p> <p><lb n="p1b_485.014"/> Rückert sagt über den so zur Schönheit und Vollendung gelangten heutigen <lb n="p1b_485.015"/> Reim treffend:</p> <lb n="p1b_485.016"/> <lg> <l>Anmutig werden selbst alltägliche Sentenzen</l> <lb n="p1b_485.017"/> <l>Jm Silberwasserfall melodischer Kadenzen.</l> </lg> <lb n="p1b_485.018"/> <p> <hi rendition="#right">(Weisheit des Brahm. <hi rendition="#aq">I</hi>. 58.)</hi> </p> <p><lb n="p1b_485.019"/> Und seine Bedeutung illustriert er im nachfolgenden Gedicht:</p> <lb n="p1b_485.020"/> <lg> <l>Was sich läßt in Prosa schreiben,</l> <lb n="p1b_485.021"/> <l> Sollt ihr nicht zum Verse treiben,</l> <lb n="p1b_485.022"/> <l> Laßt vergebne Mühe bleiben! </l> </lg> <lg> <lb n="p1b_485.023"/> <l>Die historische Romanze,</l> <lb n="p1b_485.024"/> <l> Einzeln oder gar im Kranze,</l> <lb n="p1b_485.025"/> <l> Jst nicht meine Lieblingspflanze. </l> </lg> <lg> <lb n="p1b_485.026"/> <l>Und wer bannt in Reimes Schranken</l> <lb n="p1b_485.027"/> <l> Philosophische Gedanken,</l> <lb n="p1b_485.028"/> <l> Dem werd ich's noch minder danken. </l> </lg> <lg> <lb n="p1b_485.029"/> <l>Doch, ich fürchte, meine Sprüche,</l> <lb n="p1b_485.030"/> <l> Stammend aus derselben Küche,</l> <lb n="p1b_485.031"/> <l> Gehn somit auch in die Brüche. </l> </lg> <lg> <lb n="p1b_485.032"/> <l> <hi rendition="#g">Nein, sie sind zur Form geboren:</hi> </l> <lb n="p1b_485.033"/> <l> <hi rendition="#g"> Wo sie nicht die Form erkoren,</hi> </l> <lb n="p1b_485.034"/> <l> <hi rendition="#g"> Wär' ihr Jnhalt mit verloren.</hi> </l> </lg> <lg> <lb n="p1b_485.035"/> <l> <hi rendition="#g">Darum muß der Reim sie ketten,</hi> </l> <lb n="p1b_485.036"/> <l> Weil sie sonst kein Wesen hätten,</l> <lb n="p1b_485.037"/> <l> Würde nicht der Reim es retten. </l> </lg> <lg> <lb n="p1b_485.038"/> <l>Manches scheint in Versen eigen,</l> <lb n="p1b_485.039"/> <l> Was man würd' als Nichts verschweigen,</l> <lb n="p1b_485.040"/> <l> Sollte man's in Prosa zeigen.</l> </lg> <p><lb n="p1b_485.041"/> Schopenhauer urteilt von unseren Reimen, daß sie durch ihre unbeschreiblich <lb n="p1b_485.042"/> emphatische Wirkung die Empfindung erregen, als ob der darin ausgedrückte <lb n="p1b_485.043"/> Gedanke schon in der Sprache prädestiniert, ja, präformiert gelegen habe und <lb n="p1b_485.044"/> der Dichter ihn nur herauszufördern gehabt hätte.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [485/0519]
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Für diese Art von Dichtungen, die Widersprüche einander gegenüber p1b_485.002
stellen, paßt der gleichsam in seiner eigenen Parodie erscheinende Reim, der p1b_485.003
die poetische Form mit dem prosaischen Stoff verbindet. Selbstverständlich sind p1b_485.004
in dieser Verbindung Rhythmus und Reim oft gezwungen, willkürlich und spröde, p1b_485.005
doch würden reine Formen zu dem komischen, losen Jnhalte wenig passen.
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Rekapitulation.
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Fassen wir Alles zusammen, was für Würdigung des heutigen Reimes p1b_485.008
im Gegensatz zum Otfriedschen Reim in Betracht kommt, so erhellt, daß derselbe p1b_485.009
nach und nach eine hohe Zierde der deutschen Rede geworden p1b_485.010
ist, ebenso daß er durch inhaltliche Verbindung zweier p1b_485.011
zusammengehöriger Verse nunmehr zur Gliederung und Einprägung p1b_485.012
des Gedichts beiträgt, daß er den ästhetischen Genuß erhöht p1b_485.013
und vollen Zauber sprachlicher Schönheit erschließt. (Vgl. S. 389 d. B.)
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Rückert sagt über den so zur Schönheit und Vollendung gelangten heutigen p1b_485.015
Reim treffend:
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Anmutig werden selbst alltägliche Sentenzen p1b_485.017
Jm Silberwasserfall melodischer Kadenzen.
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(Weisheit des Brahm. I. 58.)
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Und seine Bedeutung illustriert er im nachfolgenden Gedicht:
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Was sich läßt in Prosa schreiben, p1b_485.021
Sollt ihr nicht zum Verse treiben, p1b_485.022
Laßt vergebne Mühe bleiben!
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Die historische Romanze, p1b_485.024
Einzeln oder gar im Kranze, p1b_485.025
Jst nicht meine Lieblingspflanze.
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Und wer bannt in Reimes Schranken p1b_485.027
Philosophische Gedanken, p1b_485.028
Dem werd ich's noch minder danken.
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Doch, ich fürchte, meine Sprüche, p1b_485.030
Stammend aus derselben Küche, p1b_485.031
Gehn somit auch in die Brüche.
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Nein, sie sind zur Form geboren: p1b_485.033
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Manches scheint in Versen eigen, p1b_485.039
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Sollte man's in Prosa zeigen.
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Schopenhauer urteilt von unseren Reimen, daß sie durch ihre unbeschreiblich p1b_485.042
emphatische Wirkung die Empfindung erregen, als ob der darin ausgedrückte p1b_485.043
Gedanke schon in der Sprache prädestiniert, ja, präformiert gelegen habe und p1b_485.044
der Dichter ihn nur herauszufördern gehabt hätte.
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