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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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systematischer Übersicht (und Anordnung in Lippenlaute, Zahn- und Zungenlaute, p1b_124.002
Gaumenlaute und Kehllaute) das Wesenhafte jedes Lautes, das p1b_124.003
unsere Seele zu bestimmten Vorstellungen anregt.

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Für die Folge wird sich der Fachmann mit den physischen Ursachen und p1b_124.005
Gesetzen der organischen Lautbildung abzugeben haben, um die Wissenschaft der p1b_124.006
Lautsymbolik zu einem integrierenden Teil der Natur- und Seelenkunde zu erheben, p1b_124.007
welcher durch eigenartige, wunderliche Reize lohnen und sich seine Stellung p1b_124.008
in der Poetik sichern wird.

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Lautmalerei bei neueren Dichtern.

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Jndem wir nunmehr auf die Dichtungen A. W. Schlegels und Vossens p1b_124.011
verweisen, von denen der erstere die Konsonanten, der letztere die Vokale meisterhaft p1b_124.012
anwendet und mischt, ferner auf die Dichtungen W. Jordans (Nibelunge) p1b_124.013
und Rich. Wagners (Ring des Nibelungen), streben wir, in den folgenden p1b_124.014
Proben zunächst den Beweis zu erbringen, mit welchem Erfolg auch neuere p1b_124.015
Dichter onomatopoetische Gesetze verwirklicht haben. Zunächst bemerke man in p1b_124.016
Goethes Fischer, wie schön zu Anfang des Gedichts das gleichmäßige, schöne, p1b_124.017
an Wellen erinnernde Wiegen anmutig ergreift:

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Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll. p1b_124.019
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So wird bei jedem schönklingenden Gedicht der schöne Wechsel der Vokale p1b_124.021
für den harmonischen Eindruck von Bedeutung sein.

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Jn Goethes Mignon drücken dunkle Vokale eine dumpfere Stimmung p1b_124.023
aus, bis das unbefriedigte, ziehende i sich anschließt:

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Kennst du es wohl? p1b_124.025
Dahin, dahin p1b_124.026
Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!

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Dagegen das lockende, liebliche i im Erlkönig:

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Du liebes Kind, komm, geh mit mir, p1b_124.029
Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir.

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Jn der Bürgschaft von Schiller ist folgende Stelle überaus malerisch:

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Und donnernd sprengen die Wogen p1b_124.032
Des Gewölbes krachenden Bogen.

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Hier wird durch kunstvolle Anwendung und Verbindung tiefer Vokale (donnernd, p1b_124.034
Wogen, Gewölbe, Bogen) und durch die bezeichnenden Zeitwörter sprengen und p1b_124.035
krachen der bei dem Einsturz hörbare Laut prächtig charakterisiert.

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Die Gewalt des kräftigen a zeigt Rückert in seinem Lied auf die Schlacht p1b_124.037
bei Leipzig.

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Gaumenlaute und Kehllaute) das Wesenhafte jedes Lautes, das p1b_124.003
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Für die Folge wird sich der Fachmann mit den physischen Ursachen und p1b_124.005
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Lautmalerei bei neueren Dichtern.

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Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll. p1b_124.019
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So wird bei jedem schönklingenden Gedicht der schöne Wechsel der Vokale p1b_124.021
für den harmonischen Eindruck von Bedeutung sein.

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Jn Goethes Mignon drücken dunkle Vokale eine dumpfere Stimmung p1b_124.023
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Dagegen das lockende, liebliche i im Erlkönig:

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Du liebes Kind, komm, geh mit mir, p1b_124.029
Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir.

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Jn der Bürgschaft von Schiller ist folgende Stelle überaus malerisch:

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Und donnernd sprengen die Wogen p1b_124.032
Des Gewölbes krachenden Bogen.

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Hier wird durch kunstvolle Anwendung und Verbindung tiefer Vokale (donnernd, p1b_124.034
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/158>, abgerufen am 13.05.2024.