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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Ein roter Schauer zittert noch p1b_099.002
Um ihre frischen Wangen.
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O still und fragt den Bräutigam, p1b_099.004
Den Lenz, den kühnen Freier, p1b_099.005
Der diese Nacht zur Erde kam p1b_099.006
Nach ihrer Hochzeitfeier.

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d. Das Edle und Würdevolle.

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Es ist der Ausdruck des guten Geschmacks und der gebildeten p1b_099.009
Phantasie.

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Gegen das Edle und Würdevolle verstoßen alle jene Gedichte, die sich p1b_099.011
in niedrigen Bildern, in grellen Redensarten, gemeinen Wendungen und p1b_099.012
prosaischen Ausdrucksweisen gefallen (z. B. Heine: "Und du bist ja sonst kein p1b_099.013
Esel." Oder: "O welch ein Ochs bist du." Vgl. auch sein "Himmelherrgottsakrament" p1b_099.014
(Stoßseufzer S. 57, im Nachlaß).

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Beispiel des Edlen und Würdevollen:

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Herbst von Lenau.

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Nun ist es Herbst, die Blätter fallen, p1b_099.018
Den Wald durchbraust des Scheidens Weh; p1b_099.019
Den Lenz und seine Nachtigallen p1b_099.020
Versäumt' ich auf der wüsten See.
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Der Himmel schien so mild, so helle, p1b_099.022
Verloren ging sein warmes Licht; p1b_099.023
Es blühte nicht die Meereswelle. p1b_099.024
Die rohen Winde sangen nicht.
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Und mir verging die Jugend traurig, p1b_099.026
Des Frühlings Wonne blieb versäumt: p1b_099.027
Der Herbst durchweht mich trennungschaurig p1b_099.028
Mein Herz dem Tod entgegenträumt.

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e. Das Wunderbare.

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Es erblüht stets einer phantastischen Auffassung des Naturerhabenen p1b_099.031
und ist daher namentlich in der epischen Poesie von großer p1b_099.032
Wirkung.

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Beispiel des Wunderbaren:

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Belsazer von Heinr. Heine.

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Die Mitternacht zog näher schon; p1b_099.036
Jn stummer Ruh lag Babylon.
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Nur oben in des Königs Schloß, p1b_099.038
Da flackerts, da lärmt des Königs Troß.
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Dort oben in dem Königssaal, p1b_099.040
Belsazer hielt sein Königsmahl.
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Die Knechte saßen in schimmernden Reihn p1b_099.042
Und leerten die Becher mit funkelndem Wein.
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Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht'; p1b_099.044
So klang es dem störrigen Könige recht.
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/133>, abgerufen am 13.05.2024.