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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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Das Volksrecht und das Gerichtswesen.
und im Ganzen dem französischen Wesen nicht abhold ist, hält
man nicht viel auf das Schwurgericht, und zieht ihm die
deutsche Schöffenverfassung vor, welche sich hier noch zum
Theil in ununterbrochener Wirksamkeit und ursprünglicher Rein-
heit erhalten hat. Prüfen wir nun einmal unbefangen, wie
im Allgemeinen der Werth beider Institute gegen einander ab-
gewogen zu stehen kommt.

1. Man hat einen Haupteinwand gegen die Jury in
der Schwierigkeit gefunden, welche der Trennung von jus
und factum auch in Criminalsachen entgegen steht. Freilich ist
es in England nicht ganz unbestritten, in wieweit die Geschwor-
nen auch über den Rechtspunct entscheiden können; allein die
Praxis ist doch gegen eine solche Ausdehnung ihrer Functio-
nen, und wenn es sich um eine Nachahmung des Instituts han-
delt, so denkt man, wie in Frankreich, zunächst an jene Thei-
lung des Richteramts. In der That ist diese aber in aller
Strenge des Begriffs nicht durchzuführen, da das Verdict der
Geschwornen, wenigstens unter gewissen Umständen, nicht bloß
ein Urtheil über das Daseyn von Thatsachen enthält, sondern
darin auch deren Beschaffenheit mit besonderer Rücksicht auf
die Willensbestimmung des Angeschuldigten und überhaupt de-
ren Beziehung zum Strafgesetz, wodurch sie unter den Begriff
eines Verbrechens fallen, festgestellt wird, was nicht ohne eine
gewisse Unterordnung des factum unter das jus zu denken
ist. Dem Richter bleibt nun freilich, abgesehen von der Lei-
tung der Verhandlungen, die Entwerfung der Fragen, welche
den Geschwornen vorgelegt werden, und in deren Beantwor-
tung
ihr Verdict besteht, so wie, wenn auf Schuldig erkannt
worden, die Bestimmung des Strafmaaßes, und das ist aller-
dings der wichtigste Theil der Rechtsanwendung; aber wenn

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.
und im Ganzen dem franzoͤſiſchen Weſen nicht abhold iſt, haͤlt
man nicht viel auf das Schwurgericht, und zieht ihm die
deutſche Schoͤffenverfaſſung vor, welche ſich hier noch zum
Theil in ununterbrochener Wirkſamkeit und urſpruͤnglicher Rein-
heit erhalten hat. Pruͤfen wir nun einmal unbefangen, wie
im Allgemeinen der Werth beider Inſtitute gegen einander ab-
gewogen zu ſtehen kommt.

1. Man hat einen Haupteinwand gegen die Jury in
der Schwierigkeit gefunden, welche der Trennung von jus
und factum auch in Criminalſachen entgegen ſteht. Freilich iſt
es in England nicht ganz unbeſtritten, in wieweit die Geſchwor-
nen auch uͤber den Rechtspunct entſcheiden koͤnnen; allein die
Praxis iſt doch gegen eine ſolche Ausdehnung ihrer Functio-
nen, und wenn es ſich um eine Nachahmung des Inſtituts han-
delt, ſo denkt man, wie in Frankreich, zunaͤchſt an jene Thei-
lung des Richteramts. In der That iſt dieſe aber in aller
Strenge des Begriffs nicht durchzufuͤhren, da das Verdict der
Geſchwornen, wenigſtens unter gewiſſen Umſtaͤnden, nicht bloß
ein Urtheil uͤber das Daſeyn von Thatſachen enthaͤlt, ſondern
darin auch deren Beſchaffenheit mit beſonderer Ruͤckſicht auf
die Willensbeſtimmung des Angeſchuldigten und uͤberhaupt de-
ren Beziehung zum Strafgeſetz, wodurch ſie unter den Begriff
eines Verbrechens fallen, feſtgeſtellt wird, was nicht ohne eine
gewiſſe Unterordnung des factum unter das jus zu denken
iſt. Dem Richter bleibt nun freilich, abgeſehen von der Lei-
tung der Verhandlungen, die Entwerfung der Fragen, welche
den Geſchwornen vorgelegt werden, und in deren Beantwor-
tung
ihr Verdict beſteht, ſo wie, wenn auf Schuldig erkannt
worden, die Beſtimmung des Strafmaaßes, und das iſt aller-
dings der wichtigſte Theil der Rechtsanwendung; aber wenn

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[271/0283] Das Volksrecht und das Gerichtsweſen. und im Ganzen dem franzoͤſiſchen Weſen nicht abhold iſt, haͤlt man nicht viel auf das Schwurgericht, und zieht ihm die deutſche Schoͤffenverfaſſung vor, welche ſich hier noch zum Theil in ununterbrochener Wirkſamkeit und urſpruͤnglicher Rein- heit erhalten hat. Pruͤfen wir nun einmal unbefangen, wie im Allgemeinen der Werth beider Inſtitute gegen einander ab- gewogen zu ſtehen kommt. 1. Man hat einen Haupteinwand gegen die Jury in der Schwierigkeit gefunden, welche der Trennung von jus und factum auch in Criminalſachen entgegen ſteht. Freilich iſt es in England nicht ganz unbeſtritten, in wieweit die Geſchwor- nen auch uͤber den Rechtspunct entſcheiden koͤnnen; allein die Praxis iſt doch gegen eine ſolche Ausdehnung ihrer Functio- nen, und wenn es ſich um eine Nachahmung des Inſtituts han- delt, ſo denkt man, wie in Frankreich, zunaͤchſt an jene Thei- lung des Richteramts. In der That iſt dieſe aber in aller Strenge des Begriffs nicht durchzufuͤhren, da das Verdict der Geſchwornen, wenigſtens unter gewiſſen Umſtaͤnden, nicht bloß ein Urtheil uͤber das Daſeyn von Thatſachen enthaͤlt, ſondern darin auch deren Beſchaffenheit mit beſonderer Ruͤckſicht auf die Willensbeſtimmung des Angeſchuldigten und uͤberhaupt de- ren Beziehung zum Strafgeſetz, wodurch ſie unter den Begriff eines Verbrechens fallen, feſtgeſtellt wird, was nicht ohne eine gewiſſe Unterordnung des factum unter das jus zu denken iſt. Dem Richter bleibt nun freilich, abgeſehen von der Lei- tung der Verhandlungen, die Entwerfung der Fragen, welche den Geſchwornen vorgelegt werden, und in deren Beantwor- tung ihr Verdict beſteht, ſo wie, wenn auf Schuldig erkannt worden, die Beſtimmung des Strafmaaßes, und das iſt aller- dings der wichtigſte Theil der Rechtsanwendung; aber wenn

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/283>, abgerufen am 21.05.2024.