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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851.

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Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

§. 109. "Zur Verurtheilung in den höchsten und niedrigsten Grad
der gesetzlichen Strafe ist nicht erforderlich, daß alle oder auch nur
mehrere der die Strafbarkeit erhöhenden oder vermindernden Gründe
(§. 107. und 108.) zusammen treffen."

Gegen diese Bestimmungen des den Provinzialständen vorgelegten
und durch den Buchhandel veröffentlichten Entwurfs wurden aber viele
Bedenken laut; von den verschiedensten Seiten wurden sie als kasuistisch
und überflüssig angefochten, und auch die wiederholte Revision, welche
von dem Ministerium für die Gesetz-Revision ausging, trug auf die
Streichung derselben an. "Soweit sie richtig sind," heißt es in der
amtlichen Schrift w) , "gehören sie zur Doktrin, die dem Richter nicht
fremd sein darf, welchem ein Spielraum für die Abmessung der Strafe
anvertraut wird. Vermeidet man dergleichen Bestimmungen im Straf-
gesetzbuche gänzlich, so giebt man dem Richter die Macht, vieles That-
sächliche selbständig zu eruiren. Dies ist aber ganz zulässig, und auch
schon nach dem Code penal der Fall. Der Entwurf will abstrakte
Regeln aufstellen, da es doch Sache des Richters ist, von jedem ein-
zelnen Falle eine konkrete Anschauung zu gewinnen. Der Richter hat
gleichsam einen moralisch-juridischen Krankheitsfall zu würdigen, und
befindet sich dabei in einem ähnlichen Verhältnisse, wie der Arzt, dem
man auch nicht durch Aufzählung aller möglichen Symptome von
Krankheiten die richtige Methode für die Behandlung des einzelnen
Falles vorschreiben kann. Glaubt man aber durch jene Spezialvor-
schriften eine Schutzwehr gegen Mißgriffe des Richters zu errichten, so
sind doch jene Vorschriften weder erschöpfend, noch nützen sie dem Richter
der das Rechte nicht selbst weiß und will. Der §. 106. insbesondere,
in seiner formellen Bedeutung, welche hier allein in Betracht kommt,
sagt nichts weiter, als: der Richter kann thun, was ihm in jedem ein-
zelnen Falle vom Gesetze erlaubt ist. Er ist also eben so entbehrlich,
wie der §. 108., der mit ihm steht und fällt." -- --

"Der §. 107. wird vorzugsweise als nutzlos und bei Geschwor-
nengerichten unausführbar angegriffen und zwar mit Recht. Erschöpfend
können und sollen die dreizehn Zumessungsgründe nicht sein, dies liegt
in der Natur der Sache. Sie enthalten durchweg gewisse faktische Mo-
mente. Giebt aber das Gesetz solche faktische Momente dem Richter
an, so müssen auch die Fragen darüber den Geschwornen vorgelegt
werden. Und doch werden sich die meisten Nummern gar nicht einmal
in Fragen einkleiden lassen, welche mit Ja oder Nein beantwortet wer-

w) Revision des Entwurfs des Strafgesetzbuchs von 1843. I. Band.
(Berlin 1845). S. 227-29.
Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

§. 109. „Zur Verurtheilung in den höchſten und niedrigſten Grad
der geſetzlichen Strafe iſt nicht erforderlich, daß alle oder auch nur
mehrere der die Strafbarkeit erhöhenden oder vermindernden Gründe
(§. 107. und 108.) zuſammen treffen.“

Gegen dieſe Beſtimmungen des den Provinzialſtänden vorgelegten
und durch den Buchhandel veröffentlichten Entwurfs wurden aber viele
Bedenken laut; von den verſchiedenſten Seiten wurden ſie als kaſuiſtiſch
und überflüſſig angefochten, und auch die wiederholte Reviſion, welche
von dem Miniſterium für die Geſetz-Reviſion ausging, trug auf die
Streichung derſelben an. „Soweit ſie richtig ſind,“ heißt es in der
amtlichen Schrift w) , „gehören ſie zur Doktrin, die dem Richter nicht
fremd ſein darf, welchem ein Spielraum für die Abmeſſung der Strafe
anvertraut wird. Vermeidet man dergleichen Beſtimmungen im Straf-
geſetzbuche gänzlich, ſo giebt man dem Richter die Macht, vieles That-
ſächliche ſelbſtändig zu eruiren. Dies iſt aber ganz zuläſſig, und auch
ſchon nach dem Code pénal der Fall. Der Entwurf will abſtrakte
Regeln aufſtellen, da es doch Sache des Richters iſt, von jedem ein-
zelnen Falle eine konkrete Anſchauung zu gewinnen. Der Richter hat
gleichſam einen moraliſch-juridiſchen Krankheitsfall zu würdigen, und
befindet ſich dabei in einem ähnlichen Verhältniſſe, wie der Arzt, dem
man auch nicht durch Aufzählung aller möglichen Symptome von
Krankheiten die richtige Methode für die Behandlung des einzelnen
Falles vorſchreiben kann. Glaubt man aber durch jene Spezialvor-
ſchriften eine Schutzwehr gegen Mißgriffe des Richters zu errichten, ſo
ſind doch jene Vorſchriften weder erſchöpfend, noch nützen ſie dem Richter
der das Rechte nicht ſelbſt weiß und will. Der §. 106. insbeſondere,
in ſeiner formellen Bedeutung, welche hier allein in Betracht kommt,
ſagt nichts weiter, als: der Richter kann thun, was ihm in jedem ein-
zelnen Falle vom Geſetze erlaubt iſt. Er iſt alſo eben ſo entbehrlich,
wie der §. 108., der mit ihm ſteht und fällt.“ — —

„Der §. 107. wird vorzugsweiſe als nutzlos und bei Geſchwor-
nengerichten unausführbar angegriffen und zwar mit Recht. Erſchöpfend
können und ſollen die dreizehn Zumeſſungsgründe nicht ſein, dies liegt
in der Natur der Sache. Sie enthalten durchweg gewiſſe faktiſche Mo-
mente. Giebt aber das Geſetz ſolche faktiſche Momente dem Richter
an, ſo müſſen auch die Fragen darüber den Geſchwornen vorgelegt
werden. Und doch werden ſich die meiſten Nummern gar nicht einmal
in Fragen einkleiden laſſen, welche mit Ja oder Nein beantwortet wer-

w) Reviſion des Entwurfs des Strafgeſetzbuchs von 1843. I. Band.
(Berlin 1845). S. 227-29.
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[28/0038] Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen. §. 109. „Zur Verurtheilung in den höchſten und niedrigſten Grad der geſetzlichen Strafe iſt nicht erforderlich, daß alle oder auch nur mehrere der die Strafbarkeit erhöhenden oder vermindernden Gründe (§. 107. und 108.) zuſammen treffen.“ Gegen dieſe Beſtimmungen des den Provinzialſtänden vorgelegten und durch den Buchhandel veröffentlichten Entwurfs wurden aber viele Bedenken laut; von den verſchiedenſten Seiten wurden ſie als kaſuiſtiſch und überflüſſig angefochten, und auch die wiederholte Reviſion, welche von dem Miniſterium für die Geſetz-Reviſion ausging, trug auf die Streichung derſelben an. „Soweit ſie richtig ſind,“ heißt es in der amtlichen Schrift w) , „gehören ſie zur Doktrin, die dem Richter nicht fremd ſein darf, welchem ein Spielraum für die Abmeſſung der Strafe anvertraut wird. Vermeidet man dergleichen Beſtimmungen im Straf- geſetzbuche gänzlich, ſo giebt man dem Richter die Macht, vieles That- ſächliche ſelbſtändig zu eruiren. Dies iſt aber ganz zuläſſig, und auch ſchon nach dem Code pénal der Fall. Der Entwurf will abſtrakte Regeln aufſtellen, da es doch Sache des Richters iſt, von jedem ein- zelnen Falle eine konkrete Anſchauung zu gewinnen. Der Richter hat gleichſam einen moraliſch-juridiſchen Krankheitsfall zu würdigen, und befindet ſich dabei in einem ähnlichen Verhältniſſe, wie der Arzt, dem man auch nicht durch Aufzählung aller möglichen Symptome von Krankheiten die richtige Methode für die Behandlung des einzelnen Falles vorſchreiben kann. Glaubt man aber durch jene Spezialvor- ſchriften eine Schutzwehr gegen Mißgriffe des Richters zu errichten, ſo ſind doch jene Vorſchriften weder erſchöpfend, noch nützen ſie dem Richter der das Rechte nicht ſelbſt weiß und will. Der §. 106. insbeſondere, in ſeiner formellen Bedeutung, welche hier allein in Betracht kommt, ſagt nichts weiter, als: der Richter kann thun, was ihm in jedem ein- zelnen Falle vom Geſetze erlaubt iſt. Er iſt alſo eben ſo entbehrlich, wie der §. 108., der mit ihm ſteht und fällt.“ — — „Der §. 107. wird vorzugsweiſe als nutzlos und bei Geſchwor- nengerichten unausführbar angegriffen und zwar mit Recht. Erſchöpfend können und ſollen die dreizehn Zumeſſungsgründe nicht ſein, dies liegt in der Natur der Sache. Sie enthalten durchweg gewiſſe faktiſche Mo- mente. Giebt aber das Geſetz ſolche faktiſche Momente dem Richter an, ſo müſſen auch die Fragen darüber den Geſchwornen vorgelegt werden. Und doch werden ſich die meiſten Nummern gar nicht einmal in Fragen einkleiden laſſen, welche mit Ja oder Nein beantwortet wer- w) Reviſion des Entwurfs des Strafgeſetzbuchs von 1843. I. Band. (Berlin 1845). S. 227-29.

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/38>, abgerufen am 28.03.2024.