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Berthold, Franz [d. i. Adelheid Reinbold]: Irrwisch-Fritze. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [1]–115. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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das bedeutungslose Labyrinth an, als ein Schein ihr Auge rechts lockte. Hier lag ja doch ein Dorf ziemlich nah! Es flammten Lichter, zwei, drei. Mit Mühe raffte sie sich auf und ging der Richtung zu. Aber die Lichter zitterten, näherten sich, eilten aus einander -- gingen Menschen mit Laternen hin und her? -- Was geschah in dem Dorf? Jetzt ward das eine der Lichter sehr lang, und Lieschen meinte, es brenne dort an verschiedenen Punkten. Doch das Licht bewegte sich vorwärts, es schien ganz nah. Nun fing sie an zu glauben, daß es Leute wären, die ihre Mutter ausgeschickt, sie zu suchen, und dieser Gedanke gab ihr in ihrer verzweifelten Lage Trost, wie unangenehm ihr auch sein mußte, darin betroffen zu werden; sie rief und ging auf die Lichter zu. Sie vernahm einen schwachen Gegenruf -- noch einmal ertönte er, und Alles ward still; die Lichter kamen immer näher.

Plötzlich schrie Lieschen laut auf. Eine ellenhohe Flamme zuckte nickend um einen Busch, dann schlüpfte sie wieder weg. Ach, dachte sie, es sind Irrlichter, Irrlichter! Jetzt bin ich ganz verloren! -- Da hüpfte die Flamme wieder vor, und eine zweite kam hinterdrein; nun bewegten sich beide neben einander, bald wackelten sie auf einander zu, bald trennten sie sich; dann schienen sie sich wieder die Hände zu reichen, an einander zu lecken, eins zu werden, gleich darauf wankten sie wieder zu zweien umher, und trotz all dieser neckenden Nebenbewegungen näherten sie sich ihr mit reißender

das bedeutungslose Labyrinth an, als ein Schein ihr Auge rechts lockte. Hier lag ja doch ein Dorf ziemlich nah! Es flammten Lichter, zwei, drei. Mit Mühe raffte sie sich auf und ging der Richtung zu. Aber die Lichter zitterten, näherten sich, eilten aus einander — gingen Menschen mit Laternen hin und her? — Was geschah in dem Dorf? Jetzt ward das eine der Lichter sehr lang, und Lieschen meinte, es brenne dort an verschiedenen Punkten. Doch das Licht bewegte sich vorwärts, es schien ganz nah. Nun fing sie an zu glauben, daß es Leute wären, die ihre Mutter ausgeschickt, sie zu suchen, und dieser Gedanke gab ihr in ihrer verzweifelten Lage Trost, wie unangenehm ihr auch sein mußte, darin betroffen zu werden; sie rief und ging auf die Lichter zu. Sie vernahm einen schwachen Gegenruf — noch einmal ertönte er, und Alles ward still; die Lichter kamen immer näher.

Plötzlich schrie Lieschen laut auf. Eine ellenhohe Flamme zuckte nickend um einen Busch, dann schlüpfte sie wieder weg. Ach, dachte sie, es sind Irrlichter, Irrlichter! Jetzt bin ich ganz verloren! — Da hüpfte die Flamme wieder vor, und eine zweite kam hinterdrein; nun bewegten sich beide neben einander, bald wackelten sie auf einander zu, bald trennten sie sich; dann schienen sie sich wieder die Hände zu reichen, an einander zu lecken, eins zu werden, gleich darauf wankten sie wieder zu zweien umher, und trotz all dieser neckenden Nebenbewegungen näherten sie sich ihr mit reißender

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[0073] das bedeutungslose Labyrinth an, als ein Schein ihr Auge rechts lockte. Hier lag ja doch ein Dorf ziemlich nah! Es flammten Lichter, zwei, drei. Mit Mühe raffte sie sich auf und ging der Richtung zu. Aber die Lichter zitterten, näherten sich, eilten aus einander — gingen Menschen mit Laternen hin und her? — Was geschah in dem Dorf? Jetzt ward das eine der Lichter sehr lang, und Lieschen meinte, es brenne dort an verschiedenen Punkten. Doch das Licht bewegte sich vorwärts, es schien ganz nah. Nun fing sie an zu glauben, daß es Leute wären, die ihre Mutter ausgeschickt, sie zu suchen, und dieser Gedanke gab ihr in ihrer verzweifelten Lage Trost, wie unangenehm ihr auch sein mußte, darin betroffen zu werden; sie rief und ging auf die Lichter zu. Sie vernahm einen schwachen Gegenruf — noch einmal ertönte er, und Alles ward still; die Lichter kamen immer näher. Plötzlich schrie Lieschen laut auf. Eine ellenhohe Flamme zuckte nickend um einen Busch, dann schlüpfte sie wieder weg. Ach, dachte sie, es sind Irrlichter, Irrlichter! Jetzt bin ich ganz verloren! — Da hüpfte die Flamme wieder vor, und eine zweite kam hinterdrein; nun bewegten sich beide neben einander, bald wackelten sie auf einander zu, bald trennten sie sich; dann schienen sie sich wieder die Hände zu reichen, an einander zu lecken, eins zu werden, gleich darauf wankten sie wieder zu zweien umher, und trotz all dieser neckenden Nebenbewegungen näherten sie sich ihr mit reißender

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt, c/o Prof. Dr. Thomas Weitin, TU Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-10T13:46:34Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget: conversion of OCR output to TEI-conformant markup and general correction. (2017-03-10T13:46:34Z)
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Zitationshilfe: Berthold, Franz [d. i. Adelheid Reinbold]: Irrwisch-Fritze. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [1]–115. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berthold_irrwischfritze_1910/73>, abgerufen am 29.03.2024.