Berthold, Franz [d. i. Adelheid Reinbold]: Irrwisch-Fritze. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [1]–115. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sein; sie sah dahin, und der Schatten war weg; vielleicht träumte ihn nur ihr Geist. Endlich wurden die Laden geschlossen, das Feuer gelöscht; das unartige Schwesterchen lag zu den Füßen des Bettes ihrer Mutter und schlief, nur Lieschen wachte noch in ihrer Dachkammer und dachte an die Wiese, das Kornfeld, an die Blumen, an -- Endlich überkam sie eine Rührung, und sie weinte, wie Andere vor dem Altare weinen. Dann war ihr zu Muthe als ob sie beten müsse, sie murmelte einige Worte, bis Worte und Thränen stockten und ihr Kopfkissen unter ihrem warmen, gleichmäßigen Hauche trocken ward. Draußen schwatzten die Frösche in weiter Ferne ihr Schlummerlied. Am andern Morgen ging Lieschen mit der kleinen geputzten Schwester über Feld, in die Kirche des nächsten Dorfs, die ein Filial war, wo der entfernte Prediger alle vier Wochen einmal Gottesdienst hielt; denn da unten in der Haide war's um die Seelsorge nicht besser bestellt, und konnte eben nicht viel anders sein. Die Mutter hatte der kleinen Range zum erstenmal erlaubt, sich unter Christen zu erbauen, und sie ging stolz und breit neben Lieschen her, in der Ueberzeugung, man ahme durch Schweigen und Steifgehen die Würde der Großen am besten nach. Sie hatte sich einen dicken Nelkenstrauß gebunden, mit Melisse und Rosmarin rund umher, und hielt ihn zwei Schritt von sich ab, wie man auf alten Bildern die sein; sie sah dahin, und der Schatten war weg; vielleicht träumte ihn nur ihr Geist. Endlich wurden die Laden geschlossen, das Feuer gelöscht; das unartige Schwesterchen lag zu den Füßen des Bettes ihrer Mutter und schlief, nur Lieschen wachte noch in ihrer Dachkammer und dachte an die Wiese, das Kornfeld, an die Blumen, an — Endlich überkam sie eine Rührung, und sie weinte, wie Andere vor dem Altare weinen. Dann war ihr zu Muthe als ob sie beten müsse, sie murmelte einige Worte, bis Worte und Thränen stockten und ihr Kopfkissen unter ihrem warmen, gleichmäßigen Hauche trocken ward. Draußen schwatzten die Frösche in weiter Ferne ihr Schlummerlied. Am andern Morgen ging Lieschen mit der kleinen geputzten Schwester über Feld, in die Kirche des nächsten Dorfs, die ein Filial war, wo der entfernte Prediger alle vier Wochen einmal Gottesdienst hielt; denn da unten in der Haide war's um die Seelsorge nicht besser bestellt, und konnte eben nicht viel anders sein. Die Mutter hatte der kleinen Range zum erstenmal erlaubt, sich unter Christen zu erbauen, und sie ging stolz und breit neben Lieschen her, in der Ueberzeugung, man ahme durch Schweigen und Steifgehen die Würde der Großen am besten nach. Sie hatte sich einen dicken Nelkenstrauß gebunden, mit Melisse und Rosmarin rund umher, und hielt ihn zwei Schritt von sich ab, wie man auf alten Bildern die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0019"/> sein; sie sah dahin, und der Schatten war weg; vielleicht träumte ihn nur ihr Geist. Endlich wurden die Laden geschlossen, das Feuer gelöscht; das unartige Schwesterchen lag zu den Füßen des Bettes ihrer Mutter und schlief, nur Lieschen wachte noch in ihrer Dachkammer und dachte an die Wiese, das Kornfeld, an die Blumen, an — Endlich überkam sie eine Rührung, und sie weinte, wie Andere vor dem Altare weinen. Dann war ihr zu Muthe als ob sie beten müsse, sie murmelte einige Worte, bis Worte und Thränen stockten und ihr Kopfkissen unter ihrem warmen, gleichmäßigen Hauche trocken ward. Draußen schwatzten die Frösche in weiter Ferne ihr Schlummerlied.</p><lb/> <p>Am andern Morgen ging Lieschen mit der kleinen geputzten Schwester über Feld, in die Kirche des nächsten Dorfs, die ein Filial war, wo der entfernte Prediger alle vier Wochen einmal Gottesdienst hielt; denn da unten in der Haide war's um die Seelsorge nicht besser bestellt, und konnte eben nicht viel anders sein. Die Mutter hatte der kleinen Range zum erstenmal erlaubt, sich unter Christen zu erbauen, und sie ging stolz und breit neben Lieschen her, in der Ueberzeugung, man ahme durch Schweigen und Steifgehen die Würde der Großen am besten nach. Sie hatte sich einen dicken Nelkenstrauß gebunden, mit Melisse und Rosmarin rund umher, und hielt ihn zwei Schritt von sich ab, wie man auf alten Bildern die<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0019]
sein; sie sah dahin, und der Schatten war weg; vielleicht träumte ihn nur ihr Geist. Endlich wurden die Laden geschlossen, das Feuer gelöscht; das unartige Schwesterchen lag zu den Füßen des Bettes ihrer Mutter und schlief, nur Lieschen wachte noch in ihrer Dachkammer und dachte an die Wiese, das Kornfeld, an die Blumen, an — Endlich überkam sie eine Rührung, und sie weinte, wie Andere vor dem Altare weinen. Dann war ihr zu Muthe als ob sie beten müsse, sie murmelte einige Worte, bis Worte und Thränen stockten und ihr Kopfkissen unter ihrem warmen, gleichmäßigen Hauche trocken ward. Draußen schwatzten die Frösche in weiter Ferne ihr Schlummerlied.
Am andern Morgen ging Lieschen mit der kleinen geputzten Schwester über Feld, in die Kirche des nächsten Dorfs, die ein Filial war, wo der entfernte Prediger alle vier Wochen einmal Gottesdienst hielt; denn da unten in der Haide war's um die Seelsorge nicht besser bestellt, und konnte eben nicht viel anders sein. Die Mutter hatte der kleinen Range zum erstenmal erlaubt, sich unter Christen zu erbauen, und sie ging stolz und breit neben Lieschen her, in der Ueberzeugung, man ahme durch Schweigen und Steifgehen die Würde der Großen am besten nach. Sie hatte sich einen dicken Nelkenstrauß gebunden, mit Melisse und Rosmarin rund umher, und hielt ihn zwei Schritt von sich ab, wie man auf alten Bildern die
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Zitationshilfe: | Berthold, Franz [d. i. Adelheid Reinbold]: Irrwisch-Fritze. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [1]–115. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berthold_irrwischfritze_1910/19>, abgerufen am 22.07.2024. |