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Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738.

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bey Kalisch die flüchtige
gen worden. Sie kamen daher zerstreuet,
wie Schaafe, die keinen Hirten haben: recht
so, wie der Prophet Micha die Kinder Jsrael
einst im Traume gesehen hatte. Der eine hatte
nur einen Arm, der andere nur einen Fuß: der
eine hatte den bloßen Degen an der Seite ohne
Scheide, und der andere eine bloße Scheide ohne
Degen. Viel waren im Gesichte, oder im Leibe
verwundet, die meisten sahen mehr todten Leich-
namen als lebendigen Menschen ähnlich. Jn
dieser Zeit habe ich aus der Erfahrung gelernet,
mit was vor Furcht des Todes ein flüchtiger Feind
umgeben ist, und fieng nun an zu glauben, was
mir einige Wochen vorher, da ich durch Lübben
reisete, die Wirthin von den flüchtigen Sachsen
nach der Schlacht bey Fraustadt, und von ihrer
Furcht erzehlet hatte. Denn diese, die ietzt aus
Pohlen kamen, flohen auch vor einem siegenden
Feinde nach der unglücklichen Schlacht bey Ka-
lisch, die doch 18. Meilen von Breßlau lag, in
welcher die Schweden den Kürtzern gezogen, und
nach genommener Abrede vor der Schlacht, sich
ietzt nach der Schlesischen Gräntze retiriret hat-
ten. Sie legten sich in die Wirths-Häuser
und Gast-Höfe in der Vorstadt, und war son-
derlich der sogenannte Stein-Kretschem vor dem
Oder-Thore noch denselben Abend mit Schwe-
den angefüllet. Die Breßlauer kamen in

Menge

bey Kaliſch die fluͤchtige
gen worden. Sie kamen daher zerſtreuet,
wie Schaafe, die keinen Hirten haben: recht
ſo, wie der Prophet Micha die Kinder Jſrael
einſt im Traume geſehen hatte. Der eine hatte
nur einen Arm, der andere nur einen Fuß: der
eine hatte den bloßen Degen an der Seite ohne
Scheide, und der andere eine bloße Scheide ohne
Degen. Viel waren im Geſichte, oder im Leibe
verwundet, die meiſten ſahen mehr todten Leich-
namen als lebendigen Menſchen aͤhnlich. Jn
dieſer Zeit habe ich aus der Erfahrung gelernet,
mit was vor Furcht des Todes ein fluͤchtiger Feind
umgeben iſt, und fieng nun an zu glauben, was
mir einige Wochen vorher, da ich durch Luͤbben
reiſete, die Wirthin von den fluͤchtigen Sachſen
nach der Schlacht bey Frauſtadt, und von ihrer
Furcht erzehlet hatte. Denn dieſe, die ietzt aus
Pohlen kamen, flohen auch vor einem ſiegenden
Feinde nach der ungluͤcklichen Schlacht bey Ka-
liſch, die doch 18. Meilen von Breßlau lag, in
welcher die Schweden den Kuͤrtzern gezogen, und
nach genommener Abrede vor der Schlacht, ſich
ietzt nach der Schleſiſchen Graͤntze retiriret hat-
ten. Sie legten ſich in die Wirths-Haͤuſer
und Gaſt-Hoͤfe in der Vorſtadt, und war ſon-
derlich der ſogenannte Stein-Kretſchem vor dem
Oder-Thore noch denſelben Abend mit Schwe-
den angefuͤllet. Die Breßlauer kamen in

Menge
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[415/0461] bey Kaliſch die fluͤchtige gen worden. Sie kamen daher zerſtreuet, wie Schaafe, die keinen Hirten haben: recht ſo, wie der Prophet Micha die Kinder Jſrael einſt im Traume geſehen hatte. Der eine hatte nur einen Arm, der andere nur einen Fuß: der eine hatte den bloßen Degen an der Seite ohne Scheide, und der andere eine bloße Scheide ohne Degen. Viel waren im Geſichte, oder im Leibe verwundet, die meiſten ſahen mehr todten Leich- namen als lebendigen Menſchen aͤhnlich. Jn dieſer Zeit habe ich aus der Erfahrung gelernet, mit was vor Furcht des Todes ein fluͤchtiger Feind umgeben iſt, und fieng nun an zu glauben, was mir einige Wochen vorher, da ich durch Luͤbben reiſete, die Wirthin von den fluͤchtigen Sachſen nach der Schlacht bey Frauſtadt, und von ihrer Furcht erzehlet hatte. Denn dieſe, die ietzt aus Pohlen kamen, flohen auch vor einem ſiegenden Feinde nach der ungluͤcklichen Schlacht bey Ka- liſch, die doch 18. Meilen von Breßlau lag, in welcher die Schweden den Kuͤrtzern gezogen, und nach genommener Abrede vor der Schlacht, ſich ietzt nach der Schleſiſchen Graͤntze retiriret hat- ten. Sie legten ſich in die Wirths-Haͤuſer und Gaſt-Hoͤfe in der Vorſtadt, und war ſon- derlich der ſogenannte Stein-Kretſchem vor dem Oder-Thore noch denſelben Abend mit Schwe- den angefuͤllet. Die Breßlauer kamen in Menge

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Zitationshilfe: Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738/461>, abgerufen am 22.11.2024.