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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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5 Worte, sondern sogar einige Zeilen oder einen kurzen
Abschnitt herausbringen konnte, ehe die Lesescheu in der
früheren Intensität auftrat.

Was nun diese "Lesescheu" angeht, so möchte ich
betonen, dass ich dieselbe niemals in dem hohen Grade
beobachtet habe, wie Nieden sie in seinem Falle be-
schreibt. Auch meine Patienten legten häufig das Buch
mit einer Gebärde fort, welche eine unangenehme Em-
pfindung, eine Art "Unlustgefühl" verrieth, aber keiner
zeigte einen so hochgradigen Abscheu, welcher an die
Wasserscheu Hydrophobischer erinnert hätte. Ich habe
gerade den Ausdruck "Unlustgefühl" gewählt, um damit
die durchschnittliche milde Form der Abneigung zu
kennzeichnen, welche sie an den Tag legten, und glaube,
annehmen zu müssen, dass der hochgradige unangenehme
Eindruck, welchen das Lesen auf das Allgemeingefühl
des Nieden'schen Patienten ausübte, als eine ungewöhn-
liche, individuelle Steigerung des Unlustgefühls aufzufassen
ist. Eine abnorm gesteigerte Reaction des Allgemeingefühls
sprach sich ja auch sonst bei diesen Kranken in un-
zweifelhafter Weise darin aus, dass er nicht nur bei for-
cirtem Leseversuche eine Neigung zu Ohnmachtsanfällen
zeigte, sondern sobald er eine kräftige Muskelbewegung
ausführen wollte oder durch einen geschäftlichen oder
familiären Vorfall erregt wurde.

Im Anschluss an einen Vortrag, welchen Verf. am
1. April vorigen Jahres im Stuttgarter ärztlichen Vereine
über den fraglichen Gegenstand hielt,*) theilte Herr Dr.
Steiner mehrere Fälle mit, in welchen während des
Lebens aphasische Störungen vorhanden gewesen und
post mortem Veränderungen in der Gegend der Broca-
schen Stelle gefunden wurden. Im Verlaufe der Discussion

*) Vgl. No. 13, Band 66 des Medicin. Correspondenzblattes des
Württemberg. ärztlichen Landesvereins, Seite 103.

5 Worte, sondern sogar einige Zeilen oder einen kurzen
Abschnitt herausbringen konnte, ehe die Lesescheu in der
früheren Intensität auftrat.

Was nun diese „Lesescheu“ angeht, so möchte ich
betonen, dass ich dieselbe niemals in dem hohen Grade
beobachtet habe, wie Nieden sie in seinem Falle be-
schreibt. Auch meine Patienten legten häufig das Buch
mit einer Gebärde fort, welche eine unangenehme Em-
pfindung, eine Art „Unlustgefühl“ verrieth, aber keiner
zeigte einen so hochgradigen Abscheu, welcher an die
Wasserscheu Hydrophobischer erinnert hätte. Ich habe
gerade den Ausdruck „Unlustgefühl“ gewählt, um damit
die durchschnittliche milde Form der Abneigung zu
kennzeichnen, welche sie an den Tag legten, und glaube,
annehmen zu müssen, dass der hochgradige unangenehme
Eindruck, welchen das Lesen auf das Allgemeingefühl
des Nieden’schen Patienten ausübte, als eine ungewöhn-
liche, individuelle Steigerung des Unlustgefühls aufzufassen
ist. Eine abnorm gesteigerte Reaction des Allgemeingefühls
sprach sich ja auch sonst bei diesen Kranken in un-
zweifelhafter Weise darin aus, dass er nicht nur bei for-
cirtem Leseversuche eine Neigung zu Ohnmachtsanfällen
zeigte, sondern sobald er eine kräftige Muskelbewegung
ausführen wollte oder durch einen geschäftlichen oder
familiären Vorfall erregt wurde.

Im Anschluss an einen Vortrag, welchen Verf. am
1. April vorigen Jahres im Stuttgarter ärztlichen Vereine
über den fraglichen Gegenstand hielt,*) theilte Herr Dr.
Steiner mehrere Fälle mit, in welchen während des
Lebens aphasische Störungen vorhanden gewesen und
post mortem Veränderungen in der Gegend der Broca-
schen Stelle gefunden wurden. Im Verlaufe der Discussion

*) Vgl. No. 13, Band 66 des Medicin. Correspondenzblattes des
Württemberg. ärztlichen Landesvereins, Seite 103.
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[56/0060] 5 Worte, sondern sogar einige Zeilen oder einen kurzen Abschnitt herausbringen konnte, ehe die Lesescheu in der früheren Intensität auftrat. Was nun diese „Lesescheu“ angeht, so möchte ich betonen, dass ich dieselbe niemals in dem hohen Grade beobachtet habe, wie Nieden sie in seinem Falle be- schreibt. Auch meine Patienten legten häufig das Buch mit einer Gebärde fort, welche eine unangenehme Em- pfindung, eine Art „Unlustgefühl“ verrieth, aber keiner zeigte einen so hochgradigen Abscheu, welcher an die Wasserscheu Hydrophobischer erinnert hätte. Ich habe gerade den Ausdruck „Unlustgefühl“ gewählt, um damit die durchschnittliche milde Form der Abneigung zu kennzeichnen, welche sie an den Tag legten, und glaube, annehmen zu müssen, dass der hochgradige unangenehme Eindruck, welchen das Lesen auf das Allgemeingefühl des Nieden’schen Patienten ausübte, als eine ungewöhn- liche, individuelle Steigerung des Unlustgefühls aufzufassen ist. Eine abnorm gesteigerte Reaction des Allgemeingefühls sprach sich ja auch sonst bei diesen Kranken in un- zweifelhafter Weise darin aus, dass er nicht nur bei for- cirtem Leseversuche eine Neigung zu Ohnmachtsanfällen zeigte, sondern sobald er eine kräftige Muskelbewegung ausführen wollte oder durch einen geschäftlichen oder familiären Vorfall erregt wurde. Im Anschluss an einen Vortrag, welchen Verf. am 1. April vorigen Jahres im Stuttgarter ärztlichen Vereine über den fraglichen Gegenstand hielt, *) theilte Herr Dr. Steiner mehrere Fälle mit, in welchen während des Lebens aphasische Störungen vorhanden gewesen und post mortem Veränderungen in der Gegend der Broca- schen Stelle gefunden wurden. Im Verlaufe der Discussion *) Vgl. No. 13, Band 66 des Medicin. Correspondenzblattes des Württemberg. ärztlichen Landesvereins, Seite 103.

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/60>, abgerufen am 23.11.2024.