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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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störung nicht ganz von der Hand zu weisen war; immer-
hin trat dieselbe auch in diesem Falle in so prägnanter
Form hervor, dass ich in Berücksichtigung der früheren
Beobachtungen die Vermuthung aussprach, es handele sich
doch vielleicht um ein Symptom sui generis mit selbst-
ständiger pathologisch-anatomischer Grundlage.

Für die Diagnose unseres Falles war diese Frage
zunächst ohne practische Bedeutung. Wir stimmten darin
überein, dass es sich entweder um eine Apoplexie oder
um einen embolischen Process im Gebiete der links-
seitigen Arteria fossae Sylvii handele. Hinsichtlich der
Therapie, so beschränkten wir uns im Wesentlichen auf
diätetische Maassnahmen.

Im Laufe des folgenden Monates besserten sich
sämmtliche Krankheitserscheinungen, die Aphasie hörte
auf, ebenso die "Dyslexie", die Gesichtsfeldbeschränkung
verschwand, Patient fühlte kein Pelzigsein mehr in den
Extremitäten, nur das Elendigkeitsgefühl mit der Nöthigung,
öfter zu essen, blieb bestehen. Nach Verfluss eines wei-
teren Monates constatirte der Hausarzt eine Vergrösserung
des rechten Herzens, die Dämpfung erstreckte sich bis
zum rechten Sternalrande. Kein Geräusch, kein Eiweis
im Urin.

Nachdem sich Patient, einige scheinbar völlig un-
vermittelte Anfälle von Brechdurchfall abgerechnet, über
ein volles Jahr hindurch eines günstigen Gesundheits-
zustandes erfreut hatte, erkrankte er im December 1878
an einem kleinen Furunkel in der Nasenspitze mit nach-
folgendem Erysipelas faciei, an dessen Folgen er nach
8 tägigem Krankenlager zu Grunde ging. Während dieser
Krankheit war trotz der niederen Fiebertemperatur, welche
39° nie überstieg, das Sensorium von Anfang an stark
in Mitleidenschaft gezogen. Indessen gab der Patient
auf Anreden stets die richtige Antwort, und wenn ihm
auch hie und da das rechte Wort mangelte, so zeigte er

störung nicht ganz von der Hand zu weisen war; immer-
hin trat dieselbe auch in diesem Falle in so prägnanter
Form hervor, dass ich in Berücksichtigung der früheren
Beobachtungen die Vermuthung aussprach, es handele sich
doch vielleicht um ein Symptom sui generis mit selbst-
ständiger pathologisch-anatomischer Grundlage.

Für die Diagnose unseres Falles war diese Frage
zunächst ohne practische Bedeutung. Wir stimmten darin
überein, dass es sich entweder um eine Apoplexie oder
um einen embolischen Process im Gebiete der links-
seitigen Arteria fossae Sylvii handele. Hinsichtlich der
Therapie, so beschränkten wir uns im Wesentlichen auf
diätetische Maassnahmen.

Im Laufe des folgenden Monates besserten sich
sämmtliche Krankheitserscheinungen, die Aphasie hörte
auf, ebenso die „Dyslexie“, die Gesichtsfeldbeschränkung
verschwand, Patient fühlte kein Pelzigsein mehr in den
Extremitäten, nur das Elendigkeitsgefühl mit der Nöthigung,
öfter zu essen, blieb bestehen. Nach Verfluss eines wei-
teren Monates constatirte der Hausarzt eine Vergrösserung
des rechten Herzens, die Dämpfung erstreckte sich bis
zum rechten Sternalrande. Kein Geräusch, kein Eiweis
im Urin.

Nachdem sich Patient, einige scheinbar völlig un-
vermittelte Anfälle von Brechdurchfall abgerechnet, über
ein volles Jahr hindurch eines günstigen Gesundheits-
zustandes erfreut hatte, erkrankte er im December 1878
an einem kleinen Furunkel in der Nasenspitze mit nach-
folgendem Erysipelas faciei, an dessen Folgen er nach
8 tägigem Krankenlager zu Grunde ging. Während dieser
Krankheit war trotz der niederen Fiebertemperatur, welche
39° nie überstieg, das Sensorium von Anfang an stark
in Mitleidenschaft gezogen. Indessen gab der Patient
auf Anreden stets die richtige Antwort, und wenn ihm
auch hie und da das rechte Wort mangelte, so zeigte er

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[11/0015] störung nicht ganz von der Hand zu weisen war; immer- hin trat dieselbe auch in diesem Falle in so prägnanter Form hervor, dass ich in Berücksichtigung der früheren Beobachtungen die Vermuthung aussprach, es handele sich doch vielleicht um ein Symptom sui generis mit selbst- ständiger pathologisch-anatomischer Grundlage. Für die Diagnose unseres Falles war diese Frage zunächst ohne practische Bedeutung. Wir stimmten darin überein, dass es sich entweder um eine Apoplexie oder um einen embolischen Process im Gebiete der links- seitigen Arteria fossae Sylvii handele. Hinsichtlich der Therapie, so beschränkten wir uns im Wesentlichen auf diätetische Maassnahmen. Im Laufe des folgenden Monates besserten sich sämmtliche Krankheitserscheinungen, die Aphasie hörte auf, ebenso die „Dyslexie“, die Gesichtsfeldbeschränkung verschwand, Patient fühlte kein Pelzigsein mehr in den Extremitäten, nur das Elendigkeitsgefühl mit der Nöthigung, öfter zu essen, blieb bestehen. Nach Verfluss eines wei- teren Monates constatirte der Hausarzt eine Vergrösserung des rechten Herzens, die Dämpfung erstreckte sich bis zum rechten Sternalrande. Kein Geräusch, kein Eiweis im Urin. Nachdem sich Patient, einige scheinbar völlig un- vermittelte Anfälle von Brechdurchfall abgerechnet, über ein volles Jahr hindurch eines günstigen Gesundheits- zustandes erfreut hatte, erkrankte er im December 1878 an einem kleinen Furunkel in der Nasenspitze mit nach- folgendem Erysipelas faciei, an dessen Folgen er nach 8 tägigem Krankenlager zu Grunde ging. Während dieser Krankheit war trotz der niederen Fiebertemperatur, welche 39° nie überstieg, das Sensorium von Anfang an stark in Mitleidenschaft gezogen. Indessen gab der Patient auf Anreden stets die richtige Antwort, und wenn ihm auch hie und da das rechte Wort mangelte, so zeigte er

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/15>, abgerufen am 18.04.2024.