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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Der Bannwald.
sich hier in Mitte der großen, scheinbar erstorbenen Waldesein¬
samkeit? Welch ein unabsehbares Feld für die Forschungen des
Naturfreundes umfaßt ein einziger vermodernder Baumstrunk mit
seinen sichtbaren und verborgenen Bewohnern? Ein ganzes Men¬
schenalter würde nicht ausreichen, um den Lebensprozeß und die
Lebensaufgabe eines jeden dieser unscheinbaren, minutiösen Thier¬
chen, sein Entstehen und Vergehen, den Organismus seines Kör¬
pers und die Funktionen der einzelnen Glieder, sein Schlafen und
Wachen, sein Genießen und Ertragen, seine Neigungen, Bedürf¬
nisse und Kämpfe, seine Lebensdauer und seine Abhängigkeit vom
großen allgemeinen Schöpfungsgesetze, und wiederum die Be¬
ziehung und das gegenseitige Verhältniß aller untereinander er¬
gründen zu können. Die Gränzen unserer Forschung sind be¬
schränkt. "Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt
zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich
sodann in der Gränze des Begreiflichen zu halten." (Goethe.) --

Durch diesen improvisirten Natur-Plänterschlag weiter vorzu¬
dringen ist fast unmöglich; zu Hunderten liegen die entwurzelten,
zerspällten, gebrochenen Stämme umher, durch- und übereinander
geworfen und wehren mit den hinausstarrenden nackten Astarmen
und den gen die Wolken gekehrten Wurzelknorren jeder Annähe¬
rung. Dazwischen aber sproßt junges, strammes Tännicht auf; ja
sogar aus den Rumpfen der abgeknickten Waldriesen strömt neues
Leben und bestrebt sich zu grünen, zu regeneriren. -- Einige hun¬
dert Schritte seitwärts tieft sich ein Tobel ab, -- der Gletscher¬
bach rauscht dumpf herauf, -- dort wird etwas besser fortzukom¬
men sein.

"Tobel" heißen in den Schweizer Alpen jene unangebauten,
menschenleeren, kleinen Seitenthäler, oder zwischen hohe, bewaldete,
felsenrissige Berge eingeschnittene Schluchten, deren Tiefe ein Flu߬
bett ausfüllt, so daß die Thalsohle für den Verkehr unpraktikabel
ist. Die Wände fallen gewöhnlich sehr steil ab und das Ganze

Der Bannwald.
ſich hier in Mitte der großen, ſcheinbar erſtorbenen Waldesein¬
ſamkeit? Welch ein unabſehbares Feld für die Forſchungen des
Naturfreundes umfaßt ein einziger vermodernder Baumſtrunk mit
ſeinen ſichtbaren und verborgenen Bewohnern? Ein ganzes Men¬
ſchenalter würde nicht ausreichen, um den Lebensprozeß und die
Lebensaufgabe eines jeden dieſer unſcheinbaren, minutiöſen Thier¬
chen, ſein Entſtehen und Vergehen, den Organismus ſeines Kör¬
pers und die Funktionen der einzelnen Glieder, ſein Schlafen und
Wachen, ſein Genießen und Ertragen, ſeine Neigungen, Bedürf¬
niſſe und Kämpfe, ſeine Lebensdauer und ſeine Abhängigkeit vom
großen allgemeinen Schöpfungsgeſetze, und wiederum die Be¬
ziehung und das gegenſeitige Verhältniß aller untereinander er¬
gründen zu können. Die Gränzen unſerer Forſchung ſind be¬
ſchränkt. „Der Menſch iſt nicht geboren, die Probleme der Welt
zu löſen, wohl aber zu ſuchen, wo das Problem angeht, und ſich
ſodann in der Gränze des Begreiflichen zu halten.“ (Goethe.) —

Durch dieſen improviſirten Natur-Plänterſchlag weiter vorzu¬
dringen iſt faſt unmöglich; zu Hunderten liegen die entwurzelten,
zerſpällten, gebrochenen Stämme umher, durch- und übereinander
geworfen und wehren mit den hinausſtarrenden nackten Aſtarmen
und den gen die Wolken gekehrten Wurzelknorren jeder Annähe¬
rung. Dazwiſchen aber ſproßt junges, ſtrammes Tännicht auf; ja
ſogar aus den Rumpfen der abgeknickten Waldrieſen ſtrömt neues
Leben und beſtrebt ſich zu grünen, zu regeneriren. — Einige hun¬
dert Schritte ſeitwärts tieft ſich ein Tobel ab, — der Gletſcher¬
bach rauſcht dumpf herauf, — dort wird etwas beſſer fortzukom¬
men ſein.

„Tobel“ heißen in den Schweizer Alpen jene unangebauten,
menſchenleeren, kleinen Seitenthäler, oder zwiſchen hohe, bewaldete,
felſenriſſige Berge eingeſchnittene Schluchten, deren Tiefe ein Flu߬
bett ausfüllt, ſo daß die Thalſohle für den Verkehr unpraktikabel
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[75/0097] Der Bannwald. ſich hier in Mitte der großen, ſcheinbar erſtorbenen Waldesein¬ ſamkeit? Welch ein unabſehbares Feld für die Forſchungen des Naturfreundes umfaßt ein einziger vermodernder Baumſtrunk mit ſeinen ſichtbaren und verborgenen Bewohnern? Ein ganzes Men¬ ſchenalter würde nicht ausreichen, um den Lebensprozeß und die Lebensaufgabe eines jeden dieſer unſcheinbaren, minutiöſen Thier¬ chen, ſein Entſtehen und Vergehen, den Organismus ſeines Kör¬ pers und die Funktionen der einzelnen Glieder, ſein Schlafen und Wachen, ſein Genießen und Ertragen, ſeine Neigungen, Bedürf¬ niſſe und Kämpfe, ſeine Lebensdauer und ſeine Abhängigkeit vom großen allgemeinen Schöpfungsgeſetze, und wiederum die Be¬ ziehung und das gegenſeitige Verhältniß aller untereinander er¬ gründen zu können. Die Gränzen unſerer Forſchung ſind be¬ ſchränkt. „Der Menſch iſt nicht geboren, die Probleme der Welt zu löſen, wohl aber zu ſuchen, wo das Problem angeht, und ſich ſodann in der Gränze des Begreiflichen zu halten.“ (Goethe.) — Durch dieſen improviſirten Natur-Plänterſchlag weiter vorzu¬ dringen iſt faſt unmöglich; zu Hunderten liegen die entwurzelten, zerſpällten, gebrochenen Stämme umher, durch- und übereinander geworfen und wehren mit den hinausſtarrenden nackten Aſtarmen und den gen die Wolken gekehrten Wurzelknorren jeder Annähe¬ rung. Dazwiſchen aber ſproßt junges, ſtrammes Tännicht auf; ja ſogar aus den Rumpfen der abgeknickten Waldrieſen ſtrömt neues Leben und beſtrebt ſich zu grünen, zu regeneriren. — Einige hun¬ dert Schritte ſeitwärts tieft ſich ein Tobel ab, — der Gletſcher¬ bach rauſcht dumpf herauf, — dort wird etwas beſſer fortzukom¬ men ſein. „Tobel“ heißen in den Schweizer Alpen jene unangebauten, menſchenleeren, kleinen Seitenthäler, oder zwiſchen hohe, bewaldete, felſenriſſige Berge eingeſchnittene Schluchten, deren Tiefe ein Flu߬ bett ausfüllt, ſo daß die Thalſohle für den Verkehr unpraktikabel iſt. Die Wände fallen gewöhnlich ſehr ſteil ab und das Ganze

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/97>, abgerufen am 05.05.2024.