Die Wurzeln sind versunken in Nacht, Mit Runzeln ist der Stamm bedeckt, Doch sein Geäst in Jugendpracht Sich grün und frisch in die Wolken streckt. Was unten am Stamm verrunzelt ward In Knorren und Rissen rauh und hart, Das blüht hoch oben süß und hold Und trinket freudig der Sonne Gold.
Max Waldau.
Es giebt in der Welt der Organismen keine Erscheinung, die in so vollendetem Einklange mit der stillen Erhabenheit der Cen¬ tral-Alpen steht, wie der Gebirgs-Urwald. Der Grundbegriff vege¬ tativer Beschaulichkeit und sinnenden, träumerischen Pflanzenlebens erhält durch ihn seinen höchsten sichtbaren Ausdruck; in ihm tritt uns noch das volle, freie Walten der Natur in großen, markigen Zügen entgegen. Der wohlbewirthschaftete, regelrecht gezogene und gepflegte Kulturforst des Tieflandes ist eine abgeschwächte Er¬ scheinung gegenüber der patriarchalischen Würde und dem hohen greisenhaften Ernst eines alten Bannwaldes in den Alpen. Beide verhalten sich zu einander wie die praktische, nüchtern-berechnende Neuzeit zu dem romantischen, urkräftigen, wilden Mittelalter. Denn in der That ragt der Alpen-Urwald als ein Stück vorzeit¬ lichen Lebens in unsere Tage herüber und mancher der mehrhundert¬
Berlepsch, die Alpen. 5
Der Bannwald.
Die Wurzeln ſind verſunken in Nacht, Mit Runzeln iſt der Stamm bedeckt, Doch ſein Geäſt in Jugendpracht Sich grün und friſch in die Wolken ſtreckt. Was unten am Stamm verrunzelt ward In Knorren und Riſſen rauh und hart, Das blüht hoch oben ſüß und hold Und trinket freudig der Sonne Gold.
Max Waldau.
Es giebt in der Welt der Organismen keine Erſcheinung, die in ſo vollendetem Einklange mit der ſtillen Erhabenheit der Cen¬ tral-Alpen ſteht, wie der Gebirgs-Urwald. Der Grundbegriff vege¬ tativer Beſchaulichkeit und ſinnenden, träumeriſchen Pflanzenlebens erhält durch ihn ſeinen höchſten ſichtbaren Ausdruck; in ihm tritt uns noch das volle, freie Walten der Natur in großen, markigen Zügen entgegen. Der wohlbewirthſchaftete, regelrecht gezogene und gepflegte Kulturforſt des Tieflandes iſt eine abgeſchwächte Er¬ ſcheinung gegenüber der patriarchaliſchen Würde und dem hohen greiſenhaften Ernſt eines alten Bannwaldes in den Alpen. Beide verhalten ſich zu einander wie die praktiſche, nüchtern-berechnende Neuzeit zu dem romantiſchen, urkräftigen, wilden Mittelalter. Denn in der That ragt der Alpen-Urwald als ein Stück vorzeit¬ lichen Lebens in unſere Tage herüber und mancher der mehrhundert¬
Berlepſch, die Alpen. 5
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[0087]
Der Bannwald.
Die Wurzeln ſind verſunken in Nacht,
Mit Runzeln iſt der Stamm bedeckt,
Doch ſein Geäſt in Jugendpracht
Sich grün und friſch in die Wolken ſtreckt.
Was unten am Stamm verrunzelt ward
In Knorren und Riſſen rauh und hart,
Das blüht hoch oben ſüß und hold
Und trinket freudig der Sonne Gold.
Max Waldau.
Es giebt in der Welt der Organismen keine Erſcheinung, die
in ſo vollendetem Einklange mit der ſtillen Erhabenheit der Cen¬
tral-Alpen ſteht, wie der Gebirgs-Urwald. Der Grundbegriff vege¬
tativer Beſchaulichkeit und ſinnenden, träumeriſchen Pflanzenlebens
erhält durch ihn ſeinen höchſten ſichtbaren Ausdruck; in ihm tritt
uns noch das volle, freie Walten der Natur in großen, markigen
Zügen entgegen. Der wohlbewirthſchaftete, regelrecht gezogene
und gepflegte Kulturforſt des Tieflandes iſt eine abgeſchwächte Er¬
ſcheinung gegenüber der patriarchaliſchen Würde und dem hohen
greiſenhaften Ernſt eines alten Bannwaldes in den Alpen. Beide
verhalten ſich zu einander wie die praktiſche, nüchtern-berechnende
Neuzeit zu dem romantiſchen, urkräftigen, wilden Mittelalter.
Denn in der That ragt der Alpen-Urwald als ein Stück vorzeit¬
lichen Lebens in unſere Tage herüber und mancher der mehrhundert¬
Berlepſch, die Alpen. 5
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/87>, abgerufen am 22.11.2024.
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