Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Goldauer Bergsturz.
fallende Staubwolken gehüllt, über die Berghalde dem Goldauer
Thale zu. Ein Trümmerfragment schien das andere an Geschwin¬
digkeit überholen zu wollen; es war ein Wettrennen der rohen
Materie. Die chaotisch sich häufenden Sturzmassen, die hetzende
Schnelligkeit, die allgemeine Verwirrung wuchsen von Augenblick
zu Augenblick. Hausgroße Gebirgsbrocken mit aufrecht darauf
stehenden Tannen sausten, wie von dämonischen Fäusten geschleu¬
dert, frei schwebend, gleich fliegenden Vögeln, hoch durch die Lüfte;
andere Felsenscherben ricorchettirten wie Geschosse einer Riesen¬
kanonade, von Zeit zu Zeit aufsetzend, immer wieder in hohen
Bogen emporgeschnellt; noch andere prallten auf der Sturzbahn
mit ihren Sturmesgenossen zusammen und zerspritzten wie die
Funken weißglühender Eisenstangen unter der Wucht des Eisen¬
hammers. Es war eine Scene aus dem Titanenkampfe der grie¬
chischen Mythe.

Hinunter prasselt und donnert und dröhnt,
Was eben noch den Berg gekrönt,
Der Berg, zerschmettert zu Schutt und Kies,
Der See, gefüllt mit Geröll und Gries --
Das rollt und wälzt sich endlos fort
Und schwillt und wächst von Ort zu Ort;
Zerknickt die Tannen mit grauser Kraft
Und schießt als Wurfspeer weiter den Schaft.
Der Boden zittert und wankt und wiegt,
Bis rings die Stätte begraben liegt.
Weithin begraben Hügel und Grund
Des Berges Flanken schrundig und wund,
Mit Splittern und Grand das Thal gefüllt
Und leichenfahl Alles ringsum verhüllt.
(M. Waldau.)

Binnen wenig Minuten waren über hundert Wohnhäuser und
eben so viele Ställe und Scheunen zerstört; denn die ganze Halde
des Roßberges, bis fast hinauf zum Gnypenspitz, dessen äußersten
Gipfel ein großes hölzernes Kreuz schmückt, war damals mit be¬
wohnten Häusern übersäet, und drunten im Thal zwischen dem
Zuger- und Lowerzer-See lagen die begüterten Ortschaften Goldau,

Der Goldauer Bergſturz.
fallende Staubwolken gehüllt, über die Berghalde dem Goldauer
Thale zu. Ein Trümmerfragment ſchien das andere an Geſchwin¬
digkeit überholen zu wollen; es war ein Wettrennen der rohen
Materie. Die chaotiſch ſich häufenden Sturzmaſſen, die hetzende
Schnelligkeit, die allgemeine Verwirrung wuchſen von Augenblick
zu Augenblick. Hausgroße Gebirgsbrocken mit aufrecht darauf
ſtehenden Tannen ſauſten, wie von dämoniſchen Fäuſten geſchleu¬
dert, frei ſchwebend, gleich fliegenden Vögeln, hoch durch die Lüfte;
andere Felſenſcherben ricorchettirten wie Geſchoſſe einer Rieſen¬
kanonade, von Zeit zu Zeit aufſetzend, immer wieder in hohen
Bogen emporgeſchnellt; noch andere prallten auf der Sturzbahn
mit ihren Sturmesgenoſſen zuſammen und zerſpritzten wie die
Funken weißglühender Eiſenſtangen unter der Wucht des Eiſen¬
hammers. Es war eine Scene aus dem Titanenkampfe der grie¬
chiſchen Mythe.

Hinunter praſſelt und donnert und dröhnt,
Was eben noch den Berg gekrönt,
Der Berg, zerſchmettert zu Schutt und Kies,
Der See, gefüllt mit Geröll und Gries —
Das rollt und wälzt ſich endlos fort
Und ſchwillt und wächſt von Ort zu Ort;
Zerknickt die Tannen mit grauſer Kraft
Und ſchießt als Wurfſpeer weiter den Schaft.
Der Boden zittert und wankt und wiegt,
Bis rings die Stätte begraben liegt.
Weithin begraben Hügel und Grund
Des Berges Flanken ſchrundig und wund,
Mit Splittern und Grand das Thal gefüllt
Und leichenfahl Alles ringsum verhüllt.
(M. Waldau.)

Binnen wenig Minuten waren über hundert Wohnhäuſer und
eben ſo viele Ställe und Scheunen zerſtört; denn die ganze Halde
des Roßberges, bis faſt hinauf zum Gnypenſpitz, deſſen äußerſten
Gipfel ein großes hölzernes Kreuz ſchmückt, war damals mit be¬
wohnten Häuſern überſäet, und drunten im Thal zwiſchen dem
Zuger- und Lowerzer-See lagen die begüterten Ortſchaften Goldau,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0076" n="56"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Goldauer Berg&#x017F;turz</hi>.<lb/></fw> fallende Staubwolken gehüllt, über die Berghalde dem Goldauer<lb/>
Thale zu. Ein Trümmerfragment &#x017F;chien das andere an Ge&#x017F;chwin¬<lb/>
digkeit überholen zu wollen; es war ein Wettrennen der rohen<lb/>
Materie. Die chaoti&#x017F;ch &#x017F;ich häufenden Sturzma&#x017F;&#x017F;en, die hetzende<lb/>
Schnelligkeit, die allgemeine Verwirrung wuch&#x017F;en von Augenblick<lb/>
zu Augenblick. Hausgroße Gebirgsbrocken mit aufrecht darauf<lb/>
&#x017F;tehenden Tannen &#x017F;au&#x017F;ten, wie von dämoni&#x017F;chen Fäu&#x017F;ten ge&#x017F;chleu¬<lb/>
dert, frei &#x017F;chwebend, gleich fliegenden Vögeln, hoch durch die Lüfte;<lb/>
andere Fel&#x017F;en&#x017F;cherben ricorchettirten wie Ge&#x017F;cho&#x017F;&#x017F;e einer Rie&#x017F;en¬<lb/>
kanonade, von Zeit zu Zeit auf&#x017F;etzend, immer wieder in hohen<lb/>
Bogen emporge&#x017F;chnellt; noch andere prallten auf der Sturzbahn<lb/>
mit ihren Sturmesgeno&#x017F;&#x017F;en zu&#x017F;ammen und zer&#x017F;pritzten wie die<lb/>
Funken weißglühender Ei&#x017F;en&#x017F;tangen unter der Wucht des Ei&#x017F;en¬<lb/>
hammers. Es war eine Scene aus dem Titanenkampfe der grie¬<lb/>
chi&#x017F;chen Mythe.</p><lb/>
        <cit>
          <quote>
            <lg type="poem">
              <l>Hinunter pra&#x017F;&#x017F;elt und donnert und dröhnt,<lb/></l>
              <l>Was eben noch den Berg gekrönt,<lb/></l>
              <l>Der Berg, zer&#x017F;chmettert zu Schutt und Kies,<lb/></l>
              <l>Der See, gefüllt mit Geröll und Gries &#x2014;<lb/></l>
              <l>Das rollt und wälzt &#x017F;ich endlos fort<lb/></l>
              <l>Und &#x017F;chwillt und wäch&#x017F;t von Ort zu Ort;<lb/></l>
              <l>Zerknickt die Tannen mit grau&#x017F;er Kraft<lb/></l>
              <l>Und &#x017F;chießt als Wurf&#x017F;peer weiter den Schaft.<lb/></l>
              <l>Der Boden zittert und wankt und wiegt,<lb/></l>
              <l>Bis rings die Stätte begraben liegt.<lb/></l>
              <l>Weithin begraben Hügel und Grund<lb/></l>
              <l>Des Berges Flanken &#x017F;chrundig und wund,<lb/></l>
              <l>Mit Splittern und Grand das Thal gefüllt<lb/></l>
              <l>Und leichenfahl Alles ringsum verhüllt.<lb/></l>
            </lg>
          </quote>
          <bibl> <hi rendition="#right">(M. <hi rendition="#g">Waldau</hi>.)<lb/></hi> </bibl>
        </cit>
        <p>Binnen wenig Minuten waren über hundert Wohnhäu&#x017F;er und<lb/>
eben &#x017F;o viele Ställe und Scheunen zer&#x017F;tört; denn die ganze Halde<lb/>
des Roßberges, bis fa&#x017F;t hinauf zum Gnypen&#x017F;pitz, de&#x017F;&#x017F;en äußer&#x017F;ten<lb/>
Gipfel ein großes hölzernes Kreuz &#x017F;chmückt, war damals mit be¬<lb/>
wohnten Häu&#x017F;ern über&#x017F;äet, und drunten im Thal zwi&#x017F;chen dem<lb/>
Zuger- und Lowerzer-See lagen die begüterten Ort&#x017F;chaften Goldau,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[56/0076] Der Goldauer Bergſturz. fallende Staubwolken gehüllt, über die Berghalde dem Goldauer Thale zu. Ein Trümmerfragment ſchien das andere an Geſchwin¬ digkeit überholen zu wollen; es war ein Wettrennen der rohen Materie. Die chaotiſch ſich häufenden Sturzmaſſen, die hetzende Schnelligkeit, die allgemeine Verwirrung wuchſen von Augenblick zu Augenblick. Hausgroße Gebirgsbrocken mit aufrecht darauf ſtehenden Tannen ſauſten, wie von dämoniſchen Fäuſten geſchleu¬ dert, frei ſchwebend, gleich fliegenden Vögeln, hoch durch die Lüfte; andere Felſenſcherben ricorchettirten wie Geſchoſſe einer Rieſen¬ kanonade, von Zeit zu Zeit aufſetzend, immer wieder in hohen Bogen emporgeſchnellt; noch andere prallten auf der Sturzbahn mit ihren Sturmesgenoſſen zuſammen und zerſpritzten wie die Funken weißglühender Eiſenſtangen unter der Wucht des Eiſen¬ hammers. Es war eine Scene aus dem Titanenkampfe der grie¬ chiſchen Mythe. Hinunter praſſelt und donnert und dröhnt, Was eben noch den Berg gekrönt, Der Berg, zerſchmettert zu Schutt und Kies, Der See, gefüllt mit Geröll und Gries — Das rollt und wälzt ſich endlos fort Und ſchwillt und wächſt von Ort zu Ort; Zerknickt die Tannen mit grauſer Kraft Und ſchießt als Wurfſpeer weiter den Schaft. Der Boden zittert und wankt und wiegt, Bis rings die Stätte begraben liegt. Weithin begraben Hügel und Grund Des Berges Flanken ſchrundig und wund, Mit Splittern und Grand das Thal gefüllt Und leichenfahl Alles ringsum verhüllt. (M. Waldau.) Binnen wenig Minuten waren über hundert Wohnhäuſer und eben ſo viele Ställe und Scheunen zerſtört; denn die ganze Halde des Roßberges, bis faſt hinauf zum Gnypenſpitz, deſſen äußerſten Gipfel ein großes hölzernes Kreuz ſchmückt, war damals mit be¬ wohnten Häuſern überſäet, und drunten im Thal zwiſchen dem Zuger- und Lowerzer-See lagen die begüterten Ortſchaften Goldau,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/76
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/76>, abgerufen am 05.05.2024.