Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Goldauer Bergsturz.
ungeahnte Katastrophen eintreten, die einen Strich durch unsere
Rechnung machen.

Der Alpenbewohner nennt Ereignisse derart und die davon
verwüsteten Gegenden "Rüfe", "Steinrieseten", "Gante"
oder "G'schütten", und in jedem größeren, von etwas steilen
Bergwänden eingeschlossenen Thale der Schweiz, Tyrols und der
übrigen Alpenländer kann man solche, versteinerten Strömen
gleichende, aller Vegetation entbehrende Trümmerwüsten erblicken.
Bei heftig niederbrausendem Hochgewitter versanden und überdecken
sie mit ihrem Schutt binnen wenig Stunden zuvor fruchtbares,
werthvolles Ackerland oder kräuterreiche Matten und zerstören deren
Ertragsfähigkeit auf viele Jahrzehnte hinaus.

Diese sind nicht zu verwechseln mit den eigentlichen Felsen¬
stürzen
und Bergrutschen, welche von Zeit zu Zeit die Alpen
heimsuchen und zu den furchtbarsten Naturereignissen gehören. Fast
alle werden mittel- oder unmittelbar durch die Einwirkung des
Wassers herbeigeführt. Entweder bohrt, frißt und sprengt das, nur
tropfenweise, in ganz unbedeutende Felsenspalten der härtesten Ge¬
steine eindringende, im Winter gefrierende und durch die aus¬
dehnende Kraft des Frostes den Spalt gleichsam wie mit einem
Keil unmerklich erweiternde Wasser so konsequent und ausdauernd,
daß die vom Muttergestein abgesprengten Felsenmassen, allmählig
ihrer natürlichen Basis beraubt, im Frühjahr oder Sommer beim
Schmelzen des eingedrungenen Eises, endlich ihr Gleichgewicht ver¬
lieren und zu Thal stürzen, -- oder die Reihenfolge und geringe
Festigkeit des auf einander lagernden Gesteines und dessen Ab¬
dachung (oder dessen "Fallen", wie man in der Geologie sich aus¬
drückt), sind Ursache der Bergstürze. Letzteres kann nur in den¬
jenigen Alpen vorkommen, die nicht aus krystallinischen
Gesteinen
(Granit, Gneis, Glimmerschiefer, Porphyr, Syenit,
überhaupt Feldspath-haltigen Gesteinen), wie die Central-Alpen,
sondern aus Sedimentbildungen (wie solche in der Schilderung

Der Goldauer Bergſturz.
ungeahnte Kataſtrophen eintreten, die einen Strich durch unſere
Rechnung machen.

Der Alpenbewohner nennt Ereigniſſe derart und die davon
verwüſteten Gegenden „Rüfe“, „Steinrieſeten“, „Gante
oder „G'ſchütten“, und in jedem größeren, von etwas ſteilen
Bergwänden eingeſchloſſenen Thale der Schweiz, Tyrols und der
übrigen Alpenländer kann man ſolche, verſteinerten Strömen
gleichende, aller Vegetation entbehrende Trümmerwüſten erblicken.
Bei heftig niederbrauſendem Hochgewitter verſanden und überdecken
ſie mit ihrem Schutt binnen wenig Stunden zuvor fruchtbares,
werthvolles Ackerland oder kräuterreiche Matten und zerſtören deren
Ertragsfähigkeit auf viele Jahrzehnte hinaus.

Dieſe ſind nicht zu verwechſeln mit den eigentlichen Felſen¬
ſtürzen
und Bergrutſchen, welche von Zeit zu Zeit die Alpen
heimſuchen und zu den furchtbarſten Naturereigniſſen gehören. Faſt
alle werden mittel- oder unmittelbar durch die Einwirkung des
Waſſers herbeigeführt. Entweder bohrt, frißt und ſprengt das, nur
tropfenweiſe, in ganz unbedeutende Felſenſpalten der härteſten Ge¬
ſteine eindringende, im Winter gefrierende und durch die aus¬
dehnende Kraft des Froſtes den Spalt gleichſam wie mit einem
Keil unmerklich erweiternde Waſſer ſo konſequent und ausdauernd,
daß die vom Muttergeſtein abgeſprengten Felſenmaſſen, allmählig
ihrer natürlichen Baſis beraubt, im Frühjahr oder Sommer beim
Schmelzen des eingedrungenen Eiſes, endlich ihr Gleichgewicht ver¬
lieren und zu Thal ſtürzen, — oder die Reihenfolge und geringe
Feſtigkeit des auf einander lagernden Geſteines und deſſen Ab¬
dachung (oder deſſen „Fallen“, wie man in der Geologie ſich aus¬
drückt), ſind Urſache der Bergſtürze. Letzteres kann nur in den¬
jenigen Alpen vorkommen, die nicht aus kryſtalliniſchen
Geſteinen
(Granit, Gneis, Glimmerſchiefer, Porphyr, Syenit,
überhaupt Feldſpath-haltigen Geſteinen), wie die Central-Alpen,
ſondern aus Sedimentbildungen (wie ſolche in der Schilderung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0067" n="47"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Goldauer Berg&#x017F;turz</hi>.<lb/></fw> ungeahnte Kata&#x017F;trophen eintreten, die einen Strich durch un&#x017F;ere<lb/>
Rechnung machen.</p><lb/>
        <p>Der Alpenbewohner nennt Ereigni&#x017F;&#x017F;e derart und die davon<lb/>
verwü&#x017F;teten Gegenden &#x201E;<hi rendition="#g">Rüfe</hi>&#x201C;, &#x201E;<hi rendition="#g">Steinrie&#x017F;eten</hi>&#x201C;, &#x201E;<hi rendition="#g">Gante</hi>&#x201C;<lb/>
oder &#x201E;<hi rendition="#g">G'&#x017F;chütten</hi>&#x201C;, und in jedem größeren, von etwas &#x017F;teilen<lb/>
Bergwänden einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Thale der Schweiz, Tyrols und der<lb/>
übrigen Alpenländer kann man &#x017F;olche, ver&#x017F;teinerten Strömen<lb/>
gleichende, aller Vegetation entbehrende Trümmerwü&#x017F;ten erblicken.<lb/>
Bei heftig niederbrau&#x017F;endem Hochgewitter ver&#x017F;anden und überdecken<lb/>
&#x017F;ie mit ihrem Schutt binnen wenig Stunden zuvor fruchtbares,<lb/>
werthvolles Ackerland oder kräuterreiche Matten und zer&#x017F;tören deren<lb/>
Ertragsfähigkeit auf viele Jahrzehnte hinaus.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e &#x017F;ind nicht zu verwech&#x017F;eln mit den eigentlichen <hi rendition="#g">Fel&#x017F;en¬<lb/>
&#x017F;türzen</hi> und <hi rendition="#g">Bergrut&#x017F;chen</hi>, welche von Zeit zu Zeit die Alpen<lb/>
heim&#x017F;uchen und zu den furchtbar&#x017F;ten Naturereigni&#x017F;&#x017F;en gehören. Fa&#x017F;t<lb/>
alle werden mittel- oder unmittelbar durch die Einwirkung des<lb/>
Wa&#x017F;&#x017F;ers herbeigeführt. Entweder bohrt, frißt und &#x017F;prengt das, nur<lb/>
tropfenwei&#x017F;e, in ganz unbedeutende Fel&#x017F;en&#x017F;palten der härte&#x017F;ten Ge¬<lb/>
&#x017F;teine eindringende, im Winter gefrierende und durch die aus¬<lb/>
dehnende Kraft des Fro&#x017F;tes den Spalt gleich&#x017F;am wie mit einem<lb/>
Keil unmerklich erweiternde Wa&#x017F;&#x017F;er &#x017F;o kon&#x017F;equent und ausdauernd,<lb/>
daß die vom Mutterge&#x017F;tein abge&#x017F;prengten Fel&#x017F;enma&#x017F;&#x017F;en, allmählig<lb/>
ihrer natürlichen Ba&#x017F;is beraubt, im Frühjahr oder Sommer beim<lb/>
Schmelzen des eingedrungenen Ei&#x017F;es, endlich ihr Gleichgewicht ver¬<lb/>
lieren und zu Thal &#x017F;türzen, &#x2014; oder die Reihenfolge und geringe<lb/>
Fe&#x017F;tigkeit des auf einander lagernden Ge&#x017F;teines und de&#x017F;&#x017F;en Ab¬<lb/>
dachung (oder de&#x017F;&#x017F;en &#x201E;Fallen&#x201C;, wie man in der Geologie &#x017F;ich aus¬<lb/>
drückt), &#x017F;ind Ur&#x017F;ache der Berg&#x017F;türze. Letzteres kann nur in den¬<lb/>
jenigen Alpen vorkommen, die <hi rendition="#g">nicht aus kry&#x017F;tallini&#x017F;chen<lb/>
Ge&#x017F;teinen</hi> (Granit, Gneis, Glimmer&#x017F;chiefer, Porphyr, Syenit,<lb/>
überhaupt Feld&#x017F;path-haltigen Ge&#x017F;teinen), wie die Central-Alpen,<lb/>
&#x017F;ondern aus <hi rendition="#g">Sedimentbildungen</hi> (wie &#x017F;olche in der Schilderung<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[47/0067] Der Goldauer Bergſturz. ungeahnte Kataſtrophen eintreten, die einen Strich durch unſere Rechnung machen. Der Alpenbewohner nennt Ereigniſſe derart und die davon verwüſteten Gegenden „Rüfe“, „Steinrieſeten“, „Gante“ oder „G'ſchütten“, und in jedem größeren, von etwas ſteilen Bergwänden eingeſchloſſenen Thale der Schweiz, Tyrols und der übrigen Alpenländer kann man ſolche, verſteinerten Strömen gleichende, aller Vegetation entbehrende Trümmerwüſten erblicken. Bei heftig niederbrauſendem Hochgewitter verſanden und überdecken ſie mit ihrem Schutt binnen wenig Stunden zuvor fruchtbares, werthvolles Ackerland oder kräuterreiche Matten und zerſtören deren Ertragsfähigkeit auf viele Jahrzehnte hinaus. Dieſe ſind nicht zu verwechſeln mit den eigentlichen Felſen¬ ſtürzen und Bergrutſchen, welche von Zeit zu Zeit die Alpen heimſuchen und zu den furchtbarſten Naturereigniſſen gehören. Faſt alle werden mittel- oder unmittelbar durch die Einwirkung des Waſſers herbeigeführt. Entweder bohrt, frißt und ſprengt das, nur tropfenweiſe, in ganz unbedeutende Felſenſpalten der härteſten Ge¬ ſteine eindringende, im Winter gefrierende und durch die aus¬ dehnende Kraft des Froſtes den Spalt gleichſam wie mit einem Keil unmerklich erweiternde Waſſer ſo konſequent und ausdauernd, daß die vom Muttergeſtein abgeſprengten Felſenmaſſen, allmählig ihrer natürlichen Baſis beraubt, im Frühjahr oder Sommer beim Schmelzen des eingedrungenen Eiſes, endlich ihr Gleichgewicht ver¬ lieren und zu Thal ſtürzen, — oder die Reihenfolge und geringe Feſtigkeit des auf einander lagernden Geſteines und deſſen Ab¬ dachung (oder deſſen „Fallen“, wie man in der Geologie ſich aus¬ drückt), ſind Urſache der Bergſtürze. Letzteres kann nur in den¬ jenigen Alpen vorkommen, die nicht aus kryſtalliniſchen Geſteinen (Granit, Gneis, Glimmerſchiefer, Porphyr, Syenit, überhaupt Feldſpath-haltigen Geſteinen), wie die Central-Alpen, ſondern aus Sedimentbildungen (wie ſolche in der Schilderung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/67
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/67>, abgerufen am 05.05.2024.