freilich sehr relativ, und es kommt dabei viel auf die Schwere des Viehs, dessen Kletterfähigkeit und auf das Risiko an, welches jeden¬ falls derjenige übernimmt, der Herden an Orte treibt, die wenig geeignet für Weideplätze sind. -- Der arme Wildheuer dagegen, auf dem der Ernst des Lebens bitter lastet, der mit Todesgefahr schwer nach dem kümmerlichen Erwerbe ringt, der vielleicht kaum ein mageres Zicklein sein Eigenthum nennt, der aber ebenso gut anspruchsberechtigter Gemeinds-Genosse ist, wie der vermögliche Sennten-Bauer, findet die Gränze für den Anfang seiner Sichel¬ thätigkeit zum Abmähen des den Armen gehörenden Wildheues schon einige hundert Fuß tiefer in den Alpen. Darum stehen die Ansprüche der Besitzenden und die der Besitzlosen in denjenigen Gegenden immer auf der Mensur, wo nicht durch endgültigen Ge¬ meinde-Beschluß allen Interpretationen ein für allemal vorgebeugt wurde.
Der Wildheuer übt seinen halsbrechenden Beruf begreiflich nur während weniger Wochen im Jahre aus, gemeiniglich in den Monaten August und September; die übrige Zeit hindurch ist er Kleinbauer, Tagelöhner, im Herbst vielleicht Gemsenjäger, im Winter Weber, Holzschnitzler, Dorf-Handwerker oder Waldarbeiter. Entweder durch Gemeinde-Beschluß oder durch das Gesetz ein für allemal, (Glarus den 13. August), wird der Tag festgesetzt, von welchem an das Wildheuet erlaubt ist. Aus einer Haushaltung darf in der Regel nicht mehr als ein Mann gehen.
Um Mitternacht vor der Eröffnungsfrist zieht der Wildheuer aus; mit Tages Anbruch will er schon auf jener "Plangge" sein, die er sich als Ernteplatz auserwählt hat. Freudigen Muthes nimmt er Abschied von seinem "Heimet", von Weib und Kind, -- vielleicht für ewig, -- auf Nimmerwiedersehen. Die Sense, der Bergstock, die Fußeisen, ein Garn oder Tuch, um das zu ge¬ winnende kurze Heu darin zu den "Wild-Gaden" zu tragen, und ein Säcklein mit Lebensmitteln bilden die ganze fahrende Habe
Der Wildheuer.
freilich ſehr relativ, und es kommt dabei viel auf die Schwere des Viehs, deſſen Kletterfähigkeit und auf das Riſiko an, welches jeden¬ falls derjenige übernimmt, der Herden an Orte treibt, die wenig geeignet für Weideplätze ſind. — Der arme Wildheuer dagegen, auf dem der Ernſt des Lebens bitter laſtet, der mit Todesgefahr ſchwer nach dem kümmerlichen Erwerbe ringt, der vielleicht kaum ein mageres Zicklein ſein Eigenthum nennt, der aber ebenſo gut anſpruchsberechtigter Gemeinds-Genoſſe iſt, wie der vermögliche Sennten-Bauer, findet die Gränze für den Anfang ſeiner Sichel¬ thätigkeit zum Abmähen des den Armen gehörenden Wildheues ſchon einige hundert Fuß tiefer in den Alpen. Darum ſtehen die Anſprüche der Beſitzenden und die der Beſitzloſen in denjenigen Gegenden immer auf der Menſur, wo nicht durch endgültigen Ge¬ meinde-Beſchluß allen Interpretationen ein für allemal vorgebeugt wurde.
Der Wildheuer übt ſeinen halsbrechenden Beruf begreiflich nur während weniger Wochen im Jahre aus, gemeiniglich in den Monaten Auguſt und September; die übrige Zeit hindurch iſt er Kleinbauer, Tagelöhner, im Herbſt vielleicht Gemſenjäger, im Winter Weber, Holzſchnitzler, Dorf-Handwerker oder Waldarbeiter. Entweder durch Gemeinde-Beſchluß oder durch das Geſetz ein für allemal, (Glarus den 13. Auguſt), wird der Tag feſtgeſetzt, von welchem an das Wildheuet erlaubt iſt. Aus einer Haushaltung darf in der Regel nicht mehr als ein Mann gehen.
Um Mitternacht vor der Eröffnungsfriſt zieht der Wildheuer aus; mit Tages Anbruch will er ſchon auf jener „Plangge“ ſein, die er ſich als Ernteplatz auserwählt hat. Freudigen Muthes nimmt er Abſchied von ſeinem „Heimet“, von Weib und Kind, — vielleicht für ewig, — auf Nimmerwiederſehen. Die Senſe, der Bergſtock, die Fußeiſen, ein Garn oder Tuch, um das zu ge¬ winnende kurze Heu darin zu den „Wild-Gaden“ zu tragen, und ein Säcklein mit Lebensmitteln bilden die ganze fahrende Habe
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Der Wildheuer.
freilich ſehr relativ, und es kommt dabei viel auf die Schwere des
Viehs, deſſen Kletterfähigkeit und auf das Riſiko an, welches jeden¬
falls derjenige übernimmt, der Herden an Orte treibt, die wenig
geeignet für Weideplätze ſind. — Der arme Wildheuer dagegen,
auf dem der Ernſt des Lebens bitter laſtet, der mit Todesgefahr
ſchwer nach dem kümmerlichen Erwerbe ringt, der vielleicht kaum
ein mageres Zicklein ſein Eigenthum nennt, der aber ebenſo gut
anſpruchsberechtigter Gemeinds-Genoſſe iſt, wie der vermögliche
Sennten-Bauer, findet die Gränze für den Anfang ſeiner Sichel¬
thätigkeit zum Abmähen des den Armen gehörenden Wildheues
ſchon einige hundert Fuß tiefer in den Alpen. Darum ſtehen die
Anſprüche der Beſitzenden und die der Beſitzloſen in denjenigen
Gegenden immer auf der Menſur, wo nicht durch endgültigen Ge¬
meinde-Beſchluß allen Interpretationen ein für allemal vorgebeugt
wurde.
Der Wildheuer übt ſeinen halsbrechenden Beruf begreiflich nur
während weniger Wochen im Jahre aus, gemeiniglich in den Monaten
Auguſt und September; die übrige Zeit hindurch iſt er Kleinbauer,
Tagelöhner, im Herbſt vielleicht Gemſenjäger, im Winter Weber,
Holzſchnitzler, Dorf-Handwerker oder Waldarbeiter. Entweder durch
Gemeinde-Beſchluß oder durch das Geſetz ein für allemal, (Glarus
den 13. Auguſt), wird der Tag feſtgeſetzt, von welchem an das
Wildheuet erlaubt iſt. Aus einer Haushaltung darf in der Regel
nicht mehr als ein Mann gehen.
Um Mitternacht vor der Eröffnungsfriſt zieht der Wildheuer
aus; mit Tages Anbruch will er ſchon auf jener „Plangge“ ſein,
die er ſich als Ernteplatz auserwählt hat. Freudigen Muthes
nimmt er Abſchied von ſeinem „Heimet“, von Weib und Kind,
— vielleicht für ewig, — auf Nimmerwiederſehen. Die Senſe,
der Bergſtock, die Fußeiſen, ein Garn oder Tuch, um das zu ge¬
winnende kurze Heu darin zu den „Wild-Gaden“ zu tragen, und
ein Säcklein mit Lebensmitteln bilden die ganze fahrende Habe
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/418>, abgerufen am 16.07.2024.
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