für Tritte finden, späht der Geißer Wege für sich und seine Ziegen aus. Pfeifend und johlend kriecht er wie eine Katze an den Ab¬ sätzen herum, denn er hat ein Kletterbedürfniß in den Gliedern, das ihn nicht ruhen läßt. Schwindel ist ein Ding, das nicht in seinem Begriffs-Vokabularium steht. Als J. G. Kohl auf seinen Alpenreisen einen Gotthards-Bergbauer fragte, ob denn sein Bube keine Furcht habe, an den Zacken herumzuklettern, antwortete dieser ihm: "non ha paura di cervello" d. h. er hat keine Gehirnfurcht (Schwindel); "als Säugling ist er mit Ziegenmilch genährt worden, und das giebt Berggeschick und Klettermuth." Das ist der gleiche Volksglaube wie mit dem Gemsenblut, von dem ältere Alpenbe¬ schreiber faseln, daß die Jäger es warm tränken, um den Schwindel zu verlieren.
Und adlerartig-scharf bildet das Auge sich aus, eine Kräf¬ tigung der Sehorgane, die ans Mährchenhafte gränzt. So ein Bube zeigt uns auf stundenweit entfernten Höhepunkten Gemsen, beschreibt ihre Bewegungen und specialisirt das Terrain nach seinen kleinsten Formverhältnissen, wo der Ungeübte nur eine große, un¬ belebte Gesammtmasse erblickt. Aus solchen Buben werden dann in der Regel auch die verwegensten Wildheuer, die furchtlosesten und leidenschaftlichsten Gemsenjäger. Ich habe Geißbuben gesehen, die den Ernst eines in der Schule des Lebens gestählten Mannes hatten; unter der braunen, verwitterten Wildheit des Antlitzes schaute etwas von der kalten Energie jener Marmorgesichter hervor, welche die Helden alter Zeiten auszeichnete. O! Exemplare solcher Jungen giebts, die, wenn sie auf einem in der Weide liegenden Felsenbrocken stehen, trotz der zerlumpten Lodenhose und dem formlosen, alten Filzdeckel etwas Diktatorisches in ihrem ganzen Wesen haben; in dem ruhig beobachtenden Blicke, in den jugend¬ lich-entschlossenen Mienen des verbrannten Gesichtes, in der dreisten, ungezwungenen Haltung, liegt das ausgeprägte Bewußtsein: "Hier bin ich Herr!" -- Und er ists im vollsten Maße, er ist Allein¬
Der Geißbub.
für Tritte finden, ſpäht der Geißer Wege für ſich und ſeine Ziegen aus. Pfeifend und johlend kriecht er wie eine Katze an den Ab¬ ſätzen herum, denn er hat ein Kletterbedürfniß in den Gliedern, das ihn nicht ruhen läßt. Schwindel iſt ein Ding, das nicht in ſeinem Begriffs-Vokabularium ſteht. Als J. G. Kohl auf ſeinen Alpenreiſen einen Gotthards-Bergbauer fragte, ob denn ſein Bube keine Furcht habe, an den Zacken herumzuklettern, antwortete dieſer ihm: „non ha paura di cervello“ d. h. er hat keine Gehirnfurcht (Schwindel); „als Säugling iſt er mit Ziegenmilch genährt worden, und das giebt Berggeſchick und Klettermuth.“ Das iſt der gleiche Volksglaube wie mit dem Gemſenblut, von dem ältere Alpenbe¬ ſchreiber faſeln, daß die Jäger es warm tränken, um den Schwindel zu verlieren.
Und adlerartig-ſcharf bildet das Auge ſich aus, eine Kräf¬ tigung der Sehorgane, die ans Mährchenhafte gränzt. So ein Bube zeigt uns auf ſtundenweit entfernten Höhepunkten Gemſen, beſchreibt ihre Bewegungen und ſpecialiſirt das Terrain nach ſeinen kleinſten Formverhältniſſen, wo der Ungeübte nur eine große, un¬ belebte Geſammtmaſſe erblickt. Aus ſolchen Buben werden dann in der Regel auch die verwegenſten Wildheuer, die furchtloſeſten und leidenſchaftlichſten Gemſenjäger. Ich habe Geißbuben geſehen, die den Ernſt eines in der Schule des Lebens geſtählten Mannes hatten; unter der braunen, verwitterten Wildheit des Antlitzes ſchaute etwas von der kalten Energie jener Marmorgeſichter hervor, welche die Helden alter Zeiten auszeichnete. O! Exemplare ſolcher Jungen giebts, die, wenn ſie auf einem in der Weide liegenden Felſenbrocken ſtehen, trotz der zerlumpten Lodenhoſe und dem formloſen, alten Filzdeckel etwas Diktatoriſches in ihrem ganzen Weſen haben; in dem ruhig beobachtenden Blicke, in den jugend¬ lich-entſchloſſenen Mienen des verbrannten Geſichtes, in der dreiſten, ungezwungenen Haltung, liegt das ausgeprägte Bewußtſein: „Hier bin ich Herr!“ — Und er iſts im vollſten Maße, er iſt Allein¬
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Der Geißbub.
für Tritte finden, ſpäht der Geißer Wege für ſich und ſeine Ziegen
aus. Pfeifend und johlend kriecht er wie eine Katze an den Ab¬
ſätzen herum, denn er hat ein Kletterbedürfniß in den Gliedern,
das ihn nicht ruhen läßt. Schwindel iſt ein Ding, das nicht in
ſeinem Begriffs-Vokabularium ſteht. Als J. G. Kohl auf ſeinen
Alpenreiſen einen Gotthards-Bergbauer fragte, ob denn ſein Bube
keine Furcht habe, an den Zacken herumzuklettern, antwortete dieſer
ihm: „non ha paura di cervello“ d. h. er hat keine Gehirnfurcht
(Schwindel); „als Säugling iſt er mit Ziegenmilch genährt worden,
und das giebt Berggeſchick und Klettermuth.“ Das iſt der gleiche
Volksglaube wie mit dem Gemſenblut, von dem ältere Alpenbe¬
ſchreiber faſeln, daß die Jäger es warm tränken, um den Schwindel
zu verlieren.
Und adlerartig-ſcharf bildet das Auge ſich aus, eine Kräf¬
tigung der Sehorgane, die ans Mährchenhafte gränzt. So ein
Bube zeigt uns auf ſtundenweit entfernten Höhepunkten Gemſen,
beſchreibt ihre Bewegungen und ſpecialiſirt das Terrain nach ſeinen
kleinſten Formverhältniſſen, wo der Ungeübte nur eine große, un¬
belebte Geſammtmaſſe erblickt. Aus ſolchen Buben werden dann
in der Regel auch die verwegenſten Wildheuer, die furchtloſeſten
und leidenſchaftlichſten Gemſenjäger. Ich habe Geißbuben geſehen,
die den Ernſt eines in der Schule des Lebens geſtählten Mannes
hatten; unter der braunen, verwitterten Wildheit des Antlitzes
ſchaute etwas von der kalten Energie jener Marmorgeſichter hervor,
welche die Helden alter Zeiten auszeichnete. O! Exemplare ſolcher
Jungen giebts, die, wenn ſie auf einem in der Weide liegenden
Felſenbrocken ſtehen, trotz der zerlumpten Lodenhoſe und dem
formloſen, alten Filzdeckel etwas Diktatoriſches in ihrem ganzen
Weſen haben; in dem ruhig beobachtenden Blicke, in den jugend¬
lich-entſchloſſenen Mienen des verbrannten Geſichtes, in der dreiſten,
ungezwungenen Haltung, liegt das ausgeprägte Bewußtſein: „Hier
bin ich Herr!“ — Und er iſts im vollſten Maße, er iſt Allein¬
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/404>, abgerufen am 16.07.2024.
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