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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Das Alpengebäude.
kräftigere Insolation viel weiter hinauf schneefrei, blos das kahle,
nackte Felsen-Skelett darbietend, -- anderseits fehlen vielfach die
bunt belebten Mittelgründe, die abgestuften, farbenheiteren Vor¬
berge. Oben ists eintöniger in Linie und Kolorit. Der geologische
Schichtenwechsel und die durch diesen indirekt herbeigeführte Man¬
nigfaltigkeit und landschaftliche Beweglichkeit mangelt. Den Nord¬
abhang umfängt längs der ganzen Kalkalpen, vom Jura bis nach
Ungarn hinein, ein Gürtel lachender, blauer Binnenseen; am Süd¬
hang drängen sich deren nur wenige im Gebiet der See-Alpen zu¬
sammen. Die Grajischen, Cottischen und Meer-Alpen im Westen
und die Tyroler, Carnischen und Norischen Alpen im Osten, ent¬
behren, mit Ausnahme einiger sehr kleiner Wasserbecken, gänzlich
dieses belebenden Schmuckes. Der Grund dieser auffallenden Ver¬
schiedenheit liegt auch hier wieder in der Gesteinsart des Bodens.
An die krystallinischen und Schiefer-Gebilde der Westlichen Alpen
gränzt unmittelbar die jüngste Alluvial-Anschwemmung Sardiniens
und der Lombardei. Erst in Venetien treten wieder Kalk-Berge
als Mittelglieder zwischen den beiden genannten Formationen auf.

Die Erhebung, des Alpengebäudes und des mittelbar durch
dieses zugleich mitgehobenen Jura war ferner zugleich eine Noth¬
wendigkeit für die Kulturentwickelung Central-Europas. Ohne
diese Gebirgsmassen würden die meteorologischen und alle davon
abhängigen Zustände unseres Erdtheiles wesentlich andere sein.
Ohne Alpen wären zunächst Deutschland und die Niederlande den
austrocknenden, zerstörenden Einflüssen heißer, aus den afrikani¬
schen Wüsten herüberwehender Winde blosgelegt. Der Föhn, eine
Fortsetzung des südlichen Sirocco, der in den Hochalpenthälern
mit furchtbarer Raserei tobt, würde unaufgehalten, ungebrochen
und ungeschwächt in seiner hohen Temperatur über Deutschland
einherbrausen und die Agrikultur ganz anderen als den jetzt herr¬
schenden Bedingungen unterstellen. Umgekehrt dagegen würde die,
nur unter den Einflüssen milder Lüfte gedeihende südliche Vegetation

Berlepsch, die Alpen. 2

Das Alpengebäude.
kräftigere Inſolation viel weiter hinauf ſchneefrei, blos das kahle,
nackte Felſen-Skelett darbietend, — anderſeits fehlen vielfach die
bunt belebten Mittelgründe, die abgeſtuften, farbenheiteren Vor¬
berge. Oben iſts eintöniger in Linie und Kolorit. Der geologiſche
Schichtenwechſel und die durch dieſen indirekt herbeigeführte Man¬
nigfaltigkeit und landſchaftliche Beweglichkeit mangelt. Den Nord¬
abhang umfängt längs der ganzen Kalkalpen, vom Jura bis nach
Ungarn hinein, ein Gürtel lachender, blauer Binnenſeen; am Süd¬
hang drängen ſich deren nur wenige im Gebiet der See-Alpen zu¬
ſammen. Die Grajiſchen, Cottiſchen und Meer-Alpen im Weſten
und die Tyroler, Carniſchen und Noriſchen Alpen im Oſten, ent¬
behren, mit Ausnahme einiger ſehr kleiner Waſſerbecken, gänzlich
dieſes belebenden Schmuckes. Der Grund dieſer auffallenden Ver¬
ſchiedenheit liegt auch hier wieder in der Geſteinsart des Bodens.
An die kryſtalliniſchen und Schiefer-Gebilde der Weſtlichen Alpen
gränzt unmittelbar die jüngſte Alluvial-Anſchwemmung Sardiniens
und der Lombardei. Erſt in Venetien treten wieder Kalk-Berge
als Mittelglieder zwiſchen den beiden genannten Formationen auf.

Die Erhebung, des Alpengebäudes und des mittelbar durch
dieſes zugleich mitgehobenen Jura war ferner zugleich eine Noth¬
wendigkeit für die Kulturentwickelung Central-Europas. Ohne
dieſe Gebirgsmaſſen würden die meteorologiſchen und alle davon
abhängigen Zuſtände unſeres Erdtheiles weſentlich andere ſein.
Ohne Alpen wären zunächſt Deutſchland und die Niederlande den
austrocknenden, zerſtörenden Einflüſſen heißer, aus den afrikani¬
ſchen Wüſten herüberwehender Winde blosgelegt. Der Föhn, eine
Fortſetzung des ſüdlichen Sirocco, der in den Hochalpenthälern
mit furchtbarer Raſerei tobt, würde unaufgehalten, ungebrochen
und ungeſchwächt in ſeiner hohen Temperatur über Deutſchland
einherbrauſen und die Agrikultur ganz anderen als den jetzt herr¬
ſchenden Bedingungen unterſtellen. Umgekehrt dagegen würde die,
nur unter den Einflüſſen milder Lüfte gedeihende ſüdliche Vegetation

Berlepſch, die Alpen. 2
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[17/0035] Das Alpengebäude. kräftigere Inſolation viel weiter hinauf ſchneefrei, blos das kahle, nackte Felſen-Skelett darbietend, — anderſeits fehlen vielfach die bunt belebten Mittelgründe, die abgeſtuften, farbenheiteren Vor¬ berge. Oben iſts eintöniger in Linie und Kolorit. Der geologiſche Schichtenwechſel und die durch dieſen indirekt herbeigeführte Man¬ nigfaltigkeit und landſchaftliche Beweglichkeit mangelt. Den Nord¬ abhang umfängt längs der ganzen Kalkalpen, vom Jura bis nach Ungarn hinein, ein Gürtel lachender, blauer Binnenſeen; am Süd¬ hang drängen ſich deren nur wenige im Gebiet der See-Alpen zu¬ ſammen. Die Grajiſchen, Cottiſchen und Meer-Alpen im Weſten und die Tyroler, Carniſchen und Noriſchen Alpen im Oſten, ent¬ behren, mit Ausnahme einiger ſehr kleiner Waſſerbecken, gänzlich dieſes belebenden Schmuckes. Der Grund dieſer auffallenden Ver¬ ſchiedenheit liegt auch hier wieder in der Geſteinsart des Bodens. An die kryſtalliniſchen und Schiefer-Gebilde der Weſtlichen Alpen gränzt unmittelbar die jüngſte Alluvial-Anſchwemmung Sardiniens und der Lombardei. Erſt in Venetien treten wieder Kalk-Berge als Mittelglieder zwiſchen den beiden genannten Formationen auf. Die Erhebung, des Alpengebäudes und des mittelbar durch dieſes zugleich mitgehobenen Jura war ferner zugleich eine Noth¬ wendigkeit für die Kulturentwickelung Central-Europas. Ohne dieſe Gebirgsmaſſen würden die meteorologiſchen und alle davon abhängigen Zuſtände unſeres Erdtheiles weſentlich andere ſein. Ohne Alpen wären zunächſt Deutſchland und die Niederlande den austrocknenden, zerſtörenden Einflüſſen heißer, aus den afrikani¬ ſchen Wüſten herüberwehender Winde blosgelegt. Der Föhn, eine Fortſetzung des ſüdlichen Sirocco, der in den Hochalpenthälern mit furchtbarer Raſerei tobt, würde unaufgehalten, ungebrochen und ungeſchwächt in ſeiner hohen Temperatur über Deutſchland einherbrauſen und die Agrikultur ganz anderen als den jetzt herr¬ ſchenden Bedingungen unterſtellen. Umgekehrt dagegen würde die, nur unter den Einflüſſen milder Lüfte gedeihende ſüdliche Vegetation Berlepſch, die Alpen. 2

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/35>, abgerufen am 24.11.2024.