Welcher Abstand in der Farbenpracht, die so verschwenderisch über Berg und Thal ausgegossen ist! und doch haben wir erst den Halbkreis des großen, majestätischen Rundbildes durchwandert. Denn in ähnlichem Maaße wie die Lichtanhäufung gegen die Stelle hin wächst, an welcher die Sonne binnen Kurzem niedersinken wird, -- in verwandter Weise stuft auch dieselbe nach dem nördlichen Horizonte hin sich ab. Da liegt drunten in stiller Tiefe das ge¬ müthliche Brienz mit seinen kaffebraunen Holzhäusern; flächenhafte Schatten haben sich breit in die See-Mulde hineingelagert und beginnen leise und sacht die Bergeshalden gegen uns heranzuklim¬ men. Den Thalbewohnern ist das strahlende Tagesgestirn schon länger als eine Stunde entschwunden. Feierliche Abendruhe wal¬ tet über ihren Hütten; nebelgraue Dünste schleichen aus dem Tän¬ nicht hervor und umfangen wie sanfte Schlummerlieder die däm¬ merigen Bergeshalden.
Da klingen wohlbekannte Töne aus der Tiefe zu uns herauf, aber so fern und verschmolzen, so geisterhaft zart verhallend, wie Harmonie der Sphären; es ist der Alphornbläser drunten an den Giesbachfällen, der spät angelangten Gästen sein einsames Abendlied schalmeit. Das Echo vom Brienzer Rothhorn trägts zu uns her¬ über. Lange lauschen wir den melancholischen Tönen, die sehnsucht¬ erweckend uns durch die Seele ziehen:
Ihr linder Athem schmiegt, gleich einem Traumgesicht, Sich um den äußern Saum der irdischen Gestalten, Und läßt den tiefern Reiz, den Glanz und Farbe nicht, Nicht Duft und Blühn verleiht -- und ihre Formen -- walten.
Des Führers Mahnung unterbricht das sinnende Schweigen, das Alle gebannt hielt. Wir wenden uns und sind überrascht von der Wandlung, welche am Riesengebäude des Hochgebirges während der kurzen Frist unserer Rundschau vor sich gegangen ist. Die sanft ansteigende Halde der Wergisthaler Alp, auf der wir gestern bei
Berlepesch, die Alpen. 16
Alpenglühen.
Welcher Abſtand in der Farbenpracht, die ſo verſchwenderiſch über Berg und Thal ausgegoſſen iſt! und doch haben wir erſt den Halbkreis des großen, majeſtätiſchen Rundbildes durchwandert. Denn in ähnlichem Maaße wie die Lichtanhäufung gegen die Stelle hin wächſt, an welcher die Sonne binnen Kurzem niederſinken wird, — in verwandter Weiſe ſtuft auch dieſelbe nach dem nördlichen Horizonte hin ſich ab. Da liegt drunten in ſtiller Tiefe das ge¬ müthliche Brienz mit ſeinen kaffebraunen Holzhäuſern; flächenhafte Schatten haben ſich breit in die See-Mulde hineingelagert und beginnen leiſe und ſacht die Bergeshalden gegen uns heranzuklim¬ men. Den Thalbewohnern iſt das ſtrahlende Tagesgeſtirn ſchon länger als eine Stunde entſchwunden. Feierliche Abendruhe wal¬ tet über ihren Hütten; nebelgraue Dünſte ſchleichen aus dem Tän¬ nicht hervor und umfangen wie ſanfte Schlummerlieder die däm¬ merigen Bergeshalden.
Da klingen wohlbekannte Töne aus der Tiefe zu uns herauf, aber ſo fern und verſchmolzen, ſo geiſterhaft zart verhallend, wie Harmonie der Sphären; es iſt der Alphornbläſer drunten an den Giesbachfällen, der ſpät angelangten Gäſten ſein einſames Abendlied ſchalmeit. Das Echo vom Brienzer Rothhorn trägts zu uns her¬ über. Lange lauſchen wir den melancholiſchen Tönen, die ſehnſucht¬ erweckend uns durch die Seele ziehen:
Ihr linder Athem ſchmiegt, gleich einem Traumgeſicht, Sich um den äußern Saum der irdiſchen Geſtalten, Und läßt den tiefern Reiz, den Glanz und Farbe nicht, Nicht Duft und Blühn verleiht — und ihre Formen — walten.
Des Führers Mahnung unterbricht das ſinnende Schweigen, das Alle gebannt hielt. Wir wenden uns und ſind überraſcht von der Wandlung, welche am Rieſengebäude des Hochgebirges während der kurzen Friſt unſerer Rundſchau vor ſich gegangen iſt. Die ſanft anſteigende Halde der Wergiſthaler Alp, auf der wir geſtern bei
Berlepeſch, die Alpen. 16
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Alpenglühen.
Welcher Abſtand in der Farbenpracht, die ſo verſchwenderiſch
über Berg und Thal ausgegoſſen iſt! und doch haben wir erſt den
Halbkreis des großen, majeſtätiſchen Rundbildes durchwandert.
Denn in ähnlichem Maaße wie die Lichtanhäufung gegen die Stelle
hin wächſt, an welcher die Sonne binnen Kurzem niederſinken wird,
— in verwandter Weiſe ſtuft auch dieſelbe nach dem nördlichen
Horizonte hin ſich ab. Da liegt drunten in ſtiller Tiefe das ge¬
müthliche Brienz mit ſeinen kaffebraunen Holzhäuſern; flächenhafte
Schatten haben ſich breit in die See-Mulde hineingelagert und
beginnen leiſe und ſacht die Bergeshalden gegen uns heranzuklim¬
men. Den Thalbewohnern iſt das ſtrahlende Tagesgeſtirn ſchon
länger als eine Stunde entſchwunden. Feierliche Abendruhe wal¬
tet über ihren Hütten; nebelgraue Dünſte ſchleichen aus dem Tän¬
nicht hervor und umfangen wie ſanfte Schlummerlieder die däm¬
merigen Bergeshalden.
Da klingen wohlbekannte Töne aus der Tiefe zu uns herauf,
aber ſo fern und verſchmolzen, ſo geiſterhaft zart verhallend, wie
Harmonie der Sphären; es iſt der Alphornbläſer drunten an den
Giesbachfällen, der ſpät angelangten Gäſten ſein einſames Abendlied
ſchalmeit. Das Echo vom Brienzer Rothhorn trägts zu uns her¬
über. Lange lauſchen wir den melancholiſchen Tönen, die ſehnſucht¬
erweckend uns durch die Seele ziehen:
Ihr linder Athem ſchmiegt, gleich einem Traumgeſicht,
Sich um den äußern Saum der irdiſchen Geſtalten,
Und läßt den tiefern Reiz, den Glanz und Farbe nicht,
Nicht Duft und Blühn verleiht — und ihre Formen — walten.
Des Führers Mahnung unterbricht das ſinnende Schweigen,
das Alle gebannt hielt. Wir wenden uns und ſind überraſcht von
der Wandlung, welche am Rieſengebäude des Hochgebirges während
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/273>, abgerufen am 24.11.2024.
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