Fuß Höhe sind am Gorner-Gletscher ob Zermatt (im Wallis), am Glacier des Bois unterm Chapeau und am Montanvert, so wie tiefer drin am Glacier du Talefre (beide im Chamouny-Thal) und am Pasterzen-Gletscher beim Groß-Glockner durchaus keine Seltenheiten. Auch der Rhone- und die beiden Grindelwald-Glet¬ scher sind reich an solchen. Sie überdecken bei Manchem viertel¬ stundengroße Flächen.
Aber, so wie die Schaumwolken des Wasserfalles drunten rasch die gefangenen Luftbläschen wieder entlassen und sich zu der glatten, homogenen Fluß-Fläche wieder vereinen, eben so verwachsen die Eis¬ trümmer, nicht weit unter ihrer Katarakt-Linie, mittelst Kompression, Durchfeuchtung und Wiedergefrieren der eingesickerten, tropfbar¬ flüssig gewordenen Abschmelzwasser, bald wieder zu einem Körper- Ganzen, das am Ende die kompakte Gletscher-Front bildet.
Weiter hinauf! Wir können nun den Gletscher endlich betreten. Es ist gegen Mittag und die Sonne scheint warm. Wie ganz anders, als wir sie uns dachten, gestaltet sich nun die ziemlich ebene Oberfläche. Sie ist von tausend und abermals tausend Rinnen und Rinnchen durchfurcht, die kreuzend und mäanderisch ihre Bahnen gebildet haben. Emsig eilen die kleinen Wasseradern des kaum einen Grad Wärme haltenden, diamantklaren Eiswassers größeren bach-ähnlichen Furchen zu, deren Bett ebenfalls aus durchsichtig¬ hellem Gletscher-Eis besteht. Diese Bäche aber stürzen nach kurzem Laufe, laut rauschend in tiefe, trichterförmige Löcher, "Mühlen oder Moulins" genannt, in denen sie spurlos verschwinden. Es sind geheime Kanäle, die in allerlei Windungen und Verzweigungen bis auf den Felsengrund des Gletschers hinabreichen und dem aus dem Gletscherthor hervorquellenden Gletscherbach Nahrung zuführen. Die ganze sanft gewölbte Oberfläche des Gletschers glitzert und leuchtet vom Reflex der Sonnenstrahlen auf dem blanken, wasserüberron¬ nenen Eise; eine unendlich fieberhaft-zitternde Beweglichkeit ist über die ganze Eishalde ausgegossen, so daß ein wie von Monaden
Der Gletſcher.
Fuß Höhe ſind am Gorner-Gletſcher ob Zermatt (im Wallis), am Glacier des Bois unterm Chapeau und am Montanvert, ſo wie tiefer drin am Glacier du Talèfre (beide im Chamouny-Thal) und am Paſterzen-Gletſcher beim Groß-Glockner durchaus keine Seltenheiten. Auch der Rhône- und die beiden Grindelwald-Glet¬ ſcher ſind reich an ſolchen. Sie überdecken bei Manchem viertel¬ ſtundengroße Flächen.
Aber, ſo wie die Schaumwolken des Waſſerfalles drunten raſch die gefangenen Luftbläschen wieder entlaſſen und ſich zu der glatten, homogenen Fluß-Fläche wieder vereinen, eben ſo verwachſen die Eis¬ trümmer, nicht weit unter ihrer Katarakt-Linie, mittelſt Kompreſſion, Durchfeuchtung und Wiedergefrieren der eingeſickerten, tropfbar¬ flüſſig gewordenen Abſchmelzwaſſer, bald wieder zu einem Körper- Ganzen, das am Ende die kompakte Gletſcher-Front bildet.
Weiter hinauf! Wir können nun den Gletſcher endlich betreten. Es iſt gegen Mittag und die Sonne ſcheint warm. Wie ganz anders, als wir ſie uns dachten, geſtaltet ſich nun die ziemlich ebene Oberfläche. Sie iſt von tauſend und abermals tauſend Rinnen und Rinnchen durchfurcht, die kreuzend und mäanderiſch ihre Bahnen gebildet haben. Emſig eilen die kleinen Waſſeradern des kaum einen Grad Wärme haltenden, diamantklaren Eiswaſſers größeren bach-ähnlichen Furchen zu, deren Bett ebenfalls aus durchſichtig¬ hellem Gletſcher-Eis beſteht. Dieſe Bäche aber ſtürzen nach kurzem Laufe, laut rauſchend in tiefe, trichterförmige Löcher, „Mühlen oder Moulins“ genannt, in denen ſie ſpurlos verſchwinden. Es ſind geheime Kanäle, die in allerlei Windungen und Verzweigungen bis auf den Felſengrund des Gletſchers hinabreichen und dem aus dem Gletſcherthor hervorquellenden Gletſcherbach Nahrung zuführen. Die ganze ſanft gewölbte Oberfläche des Gletſchers glitzert und leuchtet vom Reflex der Sonnenſtrahlen auf dem blanken, waſſerüberron¬ nenen Eiſe; eine unendlich fieberhaft-zitternde Beweglichkeit iſt über die ganze Eishalde ausgegoſſen, ſo daß ein wie von Monaden
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Der Gletſcher.
Fuß Höhe ſind am Gorner-Gletſcher ob Zermatt (im Wallis), am
Glacier des Bois unterm Chapeau und am Montanvert, ſo wie
tiefer drin am Glacier du Talèfre (beide im Chamouny-Thal)
und am Paſterzen-Gletſcher beim Groß-Glockner durchaus keine
Seltenheiten. Auch der Rhône- und die beiden Grindelwald-Glet¬
ſcher ſind reich an ſolchen. Sie überdecken bei Manchem viertel¬
ſtundengroße Flächen.
Aber, ſo wie die Schaumwolken des Waſſerfalles drunten raſch
die gefangenen Luftbläschen wieder entlaſſen und ſich zu der glatten,
homogenen Fluß-Fläche wieder vereinen, eben ſo verwachſen die Eis¬
trümmer, nicht weit unter ihrer Katarakt-Linie, mittelſt Kompreſſion,
Durchfeuchtung und Wiedergefrieren der eingeſickerten, tropfbar¬
flüſſig gewordenen Abſchmelzwaſſer, bald wieder zu einem Körper-
Ganzen, das am Ende die kompakte Gletſcher-Front bildet.
Weiter hinauf! Wir können nun den Gletſcher endlich betreten.
Es iſt gegen Mittag und die Sonne ſcheint warm. Wie ganz
anders, als wir ſie uns dachten, geſtaltet ſich nun die ziemlich ebene
Oberfläche. Sie iſt von tauſend und abermals tauſend Rinnen
und Rinnchen durchfurcht, die kreuzend und mäanderiſch ihre Bahnen
gebildet haben. Emſig eilen die kleinen Waſſeradern des kaum
einen Grad Wärme haltenden, diamantklaren Eiswaſſers größeren
bach-ähnlichen Furchen zu, deren Bett ebenfalls aus durchſichtig¬
hellem Gletſcher-Eis beſteht. Dieſe Bäche aber ſtürzen nach kurzem
Laufe, laut rauſchend in tiefe, trichterförmige Löcher, „Mühlen
oder Moulins“ genannt, in denen ſie ſpurlos verſchwinden. Es
ſind geheime Kanäle, die in allerlei Windungen und Verzweigungen
bis auf den Felſengrund des Gletſchers hinabreichen und dem aus dem
Gletſcherthor hervorquellenden Gletſcherbach Nahrung zuführen. Die
ganze ſanft gewölbte Oberfläche des Gletſchers glitzert und leuchtet
vom Reflex der Sonnenſtrahlen auf dem blanken, waſſerüberron¬
nenen Eiſe; eine unendlich fieberhaft-zitternde Beweglichkeit iſt über
die ganze Eishalde ausgegoſſen, ſo daß ein wie von Monaden
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/254>, abgerufen am 21.05.2024.
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