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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Die Lauine.
nachgiebig, trieben mit den äußersten Mitteln das Roß zum Wei¬
tergehen an. Endlich, nachdem es durch lautes Wiehern seinen
Unwillen über die Unvernunft der Menschen zu erkennen gegeben,
zog es aufs Neue mit äußerstem Aufwande aller Kräfte an und
suchte durch ein fast verzweifeltes Vorwärtseilen der drohenden
Gefahr zu entfliehen. Wenige Sekunden weiter, plötzlich Krach
und Wurf! -- Die Lauine hatte die Reisenden sammt dem treuen,
klugen Roß begraben.

Die Gebirgsbewohner können durch befühlende Handprobe und
durch Besichtigung des Schnees denselben ziemlich richtig taxiren,
wie weit er für Lauinen reif sei, und danach richten sie ihre Ueber¬
berg-Reisen ein. Gewöhnlich werden diese, wenn sie über lange
und wilde Pässe gehen, gesellschaftlich unternommen, dann aber
doch immer sektionsweise, so daß die einzelnen Schlitten stets in
einiger Entfernung von einander laufen; sollte sich dann irgendwo
ein Schneefall ereignen, so werden doch nicht Alle zugleich davon
ergriffen, und die verschont Gebliebenen können ihren verschütteten
Gefährten zu Hülfe kommen.

Die Lauinen sind nur eine Erscheinung der tieferen Regionen,
besonders jener um und unter der Gränze der Holzvegetation; über
10,000 Fuß absolute Erhebung kommen sie kaum mehr vor. Es
giebt schon, selbst in den bedeutendsten Höhen, Schneerutsche, die
sich abwärts bewegen, und bei warmer Südluft fallen die an¬
gewehten Garnirungen von den jähen Grathen mitunter herab;
aber solche sehr unbedeutende Partial-Ablösungen tragen zu wenig
den Charakter der Lauinen, als daß sie diese Bezeichnung ver¬
dienten. Für jene tiefer liegenden Regionen sind sie im Ganzen
genommen, trotz ihrer verheerenden Wildheit, eine wohlthätige
Erscheinung; denn sie befreien große Strecken Alpenweidelandes
durch einen einzigen Akt von unberechenbaren Schneelasten, zu deren
Entfernung die Sonnen- und Luft-Wärme bis weit in den Hoch¬
sommer hinein zu schmelzen haben würde.


Die Lauine.
nachgiebig, trieben mit den äußerſten Mitteln das Roß zum Wei¬
tergehen an. Endlich, nachdem es durch lautes Wiehern ſeinen
Unwillen über die Unvernunft der Menſchen zu erkennen gegeben,
zog es aufs Neue mit äußerſtem Aufwande aller Kräfte an und
ſuchte durch ein faſt verzweifeltes Vorwärtseilen der drohenden
Gefahr zu entfliehen. Wenige Sekunden weiter, plötzlich Krach
und Wurf! — Die Lauine hatte die Reiſenden ſammt dem treuen,
klugen Roß begraben.

Die Gebirgsbewohner können durch befühlende Handprobe und
durch Beſichtigung des Schnees denſelben ziemlich richtig taxiren,
wie weit er für Lauinen reif ſei, und danach richten ſie ihre Ueber¬
berg-Reiſen ein. Gewöhnlich werden dieſe, wenn ſie über lange
und wilde Päſſe gehen, geſellſchaftlich unternommen, dann aber
doch immer ſektionsweiſe, ſo daß die einzelnen Schlitten ſtets in
einiger Entfernung von einander laufen; ſollte ſich dann irgendwo
ein Schneefall ereignen, ſo werden doch nicht Alle zugleich davon
ergriffen, und die verſchont Gebliebenen können ihren verſchütteten
Gefährten zu Hülfe kommen.

Die Lauinen ſind nur eine Erſcheinung der tieferen Regionen,
beſonders jener um und unter der Gränze der Holzvegetation; über
10,000 Fuß abſolute Erhebung kommen ſie kaum mehr vor. Es
giebt ſchon, ſelbſt in den bedeutendſten Höhen, Schneerutſche, die
ſich abwärts bewegen, und bei warmer Südluft fallen die an¬
gewehten Garnirungen von den jähen Grathen mitunter herab;
aber ſolche ſehr unbedeutende Partial-Ablöſungen tragen zu wenig
den Charakter der Lauinen, als daß ſie dieſe Bezeichnung ver¬
dienten. Für jene tiefer liegenden Regionen ſind ſie im Ganzen
genommen, trotz ihrer verheerenden Wildheit, eine wohlthätige
Erſcheinung; denn ſie befreien große Strecken Alpenweidelandes
durch einen einzigen Akt von unberechenbaren Schneelaſten, zu deren
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ſommer hinein zu ſchmelzen haben würde.


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[212/0242] Die Lauine. nachgiebig, trieben mit den äußerſten Mitteln das Roß zum Wei¬ tergehen an. Endlich, nachdem es durch lautes Wiehern ſeinen Unwillen über die Unvernunft der Menſchen zu erkennen gegeben, zog es aufs Neue mit äußerſtem Aufwande aller Kräfte an und ſuchte durch ein faſt verzweifeltes Vorwärtseilen der drohenden Gefahr zu entfliehen. Wenige Sekunden weiter, plötzlich Krach und Wurf! — Die Lauine hatte die Reiſenden ſammt dem treuen, klugen Roß begraben. Die Gebirgsbewohner können durch befühlende Handprobe und durch Beſichtigung des Schnees denſelben ziemlich richtig taxiren, wie weit er für Lauinen reif ſei, und danach richten ſie ihre Ueber¬ berg-Reiſen ein. Gewöhnlich werden dieſe, wenn ſie über lange und wilde Päſſe gehen, geſellſchaftlich unternommen, dann aber doch immer ſektionsweiſe, ſo daß die einzelnen Schlitten ſtets in einiger Entfernung von einander laufen; ſollte ſich dann irgendwo ein Schneefall ereignen, ſo werden doch nicht Alle zugleich davon ergriffen, und die verſchont Gebliebenen können ihren verſchütteten Gefährten zu Hülfe kommen. Die Lauinen ſind nur eine Erſcheinung der tieferen Regionen, beſonders jener um und unter der Gränze der Holzvegetation; über 10,000 Fuß abſolute Erhebung kommen ſie kaum mehr vor. Es giebt ſchon, ſelbſt in den bedeutendſten Höhen, Schneerutſche, die ſich abwärts bewegen, und bei warmer Südluft fallen die an¬ gewehten Garnirungen von den jähen Grathen mitunter herab; aber ſolche ſehr unbedeutende Partial-Ablöſungen tragen zu wenig den Charakter der Lauinen, als daß ſie dieſe Bezeichnung ver¬ dienten. Für jene tiefer liegenden Regionen ſind ſie im Ganzen genommen, trotz ihrer verheerenden Wildheit, eine wohlthätige Erſcheinung; denn ſie befreien große Strecken Alpenweidelandes durch einen einzigen Akt von unberechenbaren Schneelaſten, zu deren Entfernung die Sonnen- und Luft-Wärme bis weit in den Hoch¬ ſommer hinein zu ſchmelzen haben würde.

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/242>, abgerufen am 25.11.2024.