Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Die Lauine. Erscheinung nicht vertrauten Fremdlings sich gewöhnlich in dieHöhe und sucht am Firmamente die Gewitterwolken, welche die gewaltig tönenden Schwingungen hervorrufen; aber droben im tiefen blauen Aether lagert lichte Ruhe, -- kein Wölkchen schwimmt im Luft-Oceane. Schon rollt das Getöse nachhallend durch die Thäler und erneuert jetzt abermals, stärker anschwellend, die erschüt¬ ternden Tonwellen, als das Auge niedersinkend drüben am Silber- Mantel des Berges rauchendes, von den Lüften verwehtes, stäuben¬ des Gewölk und unmittelbar darunter eine gleitende, niederwallende Bewegung an den kaum zuvor noch in starrer Todesruhe dalie¬ genden Firnhängen wahrnimmt. Scheinbar langsam, im stolzen getragenen Zeitmaß, schwebt die Schnee-Kaskade wie breite Atlas¬ bänder über die Felsenwände herab, staucht tiefer an hervortretenden Fluhsätzen auf, zerstiebt in wollig-runde Schaumbogen und zer¬ flatternde Wolken-Wimpel, wie die Intervallen eines Strom- Kataraktes, oder verliert sich sekundenlang in verborgene Schluchten und sinkt, das Schauspiel von Stufe zu Stufe wiederholend, hin¬ unter, bis sie auf flach auslaufenden Alpmatten oder im tiefen Trümmer-Becken zur Ruhe kommt. Mit dem Verschwinden des vermeintlichen Stromes, verhallen auch die, den Fall begleitenden, grollenden Donner, und der Wanderer überzeugt sich staunend, daß beide Thätigkeiten in unmittelbarer Wechselbeziehung zu einander standen. Dort aber, wo der scheinbare Staubbach herniederwallte, zeigt eine schmutzige, fahlfarbene Linie in Mitte des blendenden Firnes, daß hier mehr als blos Schnee, daß Erde und Gestein¬ schutt mit herabgekommen sein muß, von denen Spuren zurückblieben. -- Dies ist das Bild einer sommerlichen Grund-Lauine von ent¬ Die Lauine. Erſcheinung nicht vertrauten Fremdlings ſich gewöhnlich in dieHöhe und ſucht am Firmamente die Gewitterwolken, welche die gewaltig tönenden Schwingungen hervorrufen; aber droben im tiefen blauen Aether lagert lichte Ruhe, — kein Wölkchen ſchwimmt im Luft-Oceane. Schon rollt das Getöſe nachhallend durch die Thäler und erneuert jetzt abermals, ſtärker anſchwellend, die erſchüt¬ ternden Tonwellen, als das Auge niederſinkend drüben am Silber- Mantel des Berges rauchendes, von den Lüften verwehtes, ſtäuben¬ des Gewölk und unmittelbar darunter eine gleitende, niederwallende Bewegung an den kaum zuvor noch in ſtarrer Todesruhe dalie¬ genden Firnhängen wahrnimmt. Scheinbar langſam, im ſtolzen getragenen Zeitmaß, ſchwebt die Schnee-Kaskade wie breite Atlas¬ bänder über die Felſenwände herab, ſtaucht tiefer an hervortretenden Fluhſätzen auf, zerſtiebt in wollig-runde Schaumbogen und zer¬ flatternde Wolken-Wimpel, wie die Intervallen eines Strom- Kataraktes, oder verliert ſich ſekundenlang in verborgene Schluchten und ſinkt, das Schauſpiel von Stufe zu Stufe wiederholend, hin¬ unter, bis ſie auf flach auslaufenden Alpmatten oder im tiefen Trümmer-Becken zur Ruhe kommt. Mit dem Verſchwinden des vermeintlichen Stromes, verhallen auch die, den Fall begleitenden, grollenden Donner, und der Wanderer überzeugt ſich ſtaunend, daß beide Thätigkeiten in unmittelbarer Wechſelbeziehung zu einander ſtanden. Dort aber, wo der ſcheinbare Staubbach herniederwallte, zeigt eine ſchmutzige, fahlfarbene Linie in Mitte des blendenden Firnes, daß hier mehr als blos Schnee, daß Erde und Geſtein¬ ſchutt mit herabgekommen ſein muß, von denen Spuren zurückblieben. — Dies iſt das Bild einer ſommerlichen Grund-Lauine von ent¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0236" n="206"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Die Lauine</hi>.<lb/></fw> Erſcheinung nicht vertrauten Fremdlings ſich gewöhnlich in die<lb/> Höhe und ſucht am Firmamente die Gewitterwolken, welche die<lb/> gewaltig tönenden Schwingungen hervorrufen; aber droben im<lb/> tiefen blauen Aether lagert lichte Ruhe, — kein Wölkchen ſchwimmt<lb/> im Luft-Oceane. Schon rollt das Getöſe nachhallend durch die<lb/> Thäler und erneuert jetzt abermals, ſtärker anſchwellend, die erſchüt¬<lb/> ternden Tonwellen, als das Auge niederſinkend drüben am Silber-<lb/> Mantel des Berges rauchendes, von den Lüften verwehtes, ſtäuben¬<lb/> des Gewölk und unmittelbar darunter eine gleitende, niederwallende<lb/> Bewegung an den kaum zuvor noch in ſtarrer Todesruhe dalie¬<lb/> genden Firnhängen wahrnimmt. Scheinbar langſam, im ſtolzen<lb/> getragenen Zeitmaß, ſchwebt die Schnee-Kaskade wie breite Atlas¬<lb/> bänder über die Felſenwände herab, ſtaucht tiefer an hervortretenden<lb/> Fluhſätzen auf, zerſtiebt in wollig-runde Schaumbogen und zer¬<lb/> flatternde Wolken-Wimpel, wie die Intervallen eines Strom-<lb/> Kataraktes, oder verliert ſich ſekundenlang in verborgene Schluchten<lb/> und ſinkt, das Schauſpiel von Stufe zu Stufe wiederholend, hin¬<lb/> unter, bis ſie auf flach auslaufenden Alpmatten oder im tiefen<lb/> Trümmer-Becken zur Ruhe kommt. Mit dem Verſchwinden des<lb/> vermeintlichen Stromes, verhallen auch die, den Fall begleitenden,<lb/> grollenden Donner, und der Wanderer überzeugt ſich ſtaunend, daß<lb/> beide Thätigkeiten in unmittelbarer Wechſelbeziehung zu einander<lb/> ſtanden. Dort aber, wo der ſcheinbare Staubbach herniederwallte,<lb/> zeigt eine ſchmutzige, fahlfarbene Linie in Mitte des blendenden<lb/> Firnes, daß hier mehr als blos Schnee, daß Erde und Geſtein¬<lb/> ſchutt mit herabgekommen ſein muß, von denen Spuren zurückblieben. —<lb/></p> <p>Dies iſt das Bild einer ſommerlichen Grund-Lauine von ent¬<lb/> ferntem, geſichertem Standpunkte ruhig und gemächlich betrachtet.<lb/> Könnte man mit bedeutend vergrößerndem, ſcharf-ſpecialiſirendem<lb/> Tubus die ſtürzende Lauine dem Auge näher rücken, wie ganz an¬<lb/> ders würde dieſe ſich geſtalten, wie würde ſie, gleich den ungeahnten<lb/> Zellgeweben der Organismen unterm Mikroſkop, ſich plötzlich zu<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [206/0236]
Die Lauine.
Erſcheinung nicht vertrauten Fremdlings ſich gewöhnlich in die
Höhe und ſucht am Firmamente die Gewitterwolken, welche die
gewaltig tönenden Schwingungen hervorrufen; aber droben im
tiefen blauen Aether lagert lichte Ruhe, — kein Wölkchen ſchwimmt
im Luft-Oceane. Schon rollt das Getöſe nachhallend durch die
Thäler und erneuert jetzt abermals, ſtärker anſchwellend, die erſchüt¬
ternden Tonwellen, als das Auge niederſinkend drüben am Silber-
Mantel des Berges rauchendes, von den Lüften verwehtes, ſtäuben¬
des Gewölk und unmittelbar darunter eine gleitende, niederwallende
Bewegung an den kaum zuvor noch in ſtarrer Todesruhe dalie¬
genden Firnhängen wahrnimmt. Scheinbar langſam, im ſtolzen
getragenen Zeitmaß, ſchwebt die Schnee-Kaskade wie breite Atlas¬
bänder über die Felſenwände herab, ſtaucht tiefer an hervortretenden
Fluhſätzen auf, zerſtiebt in wollig-runde Schaumbogen und zer¬
flatternde Wolken-Wimpel, wie die Intervallen eines Strom-
Kataraktes, oder verliert ſich ſekundenlang in verborgene Schluchten
und ſinkt, das Schauſpiel von Stufe zu Stufe wiederholend, hin¬
unter, bis ſie auf flach auslaufenden Alpmatten oder im tiefen
Trümmer-Becken zur Ruhe kommt. Mit dem Verſchwinden des
vermeintlichen Stromes, verhallen auch die, den Fall begleitenden,
grollenden Donner, und der Wanderer überzeugt ſich ſtaunend, daß
beide Thätigkeiten in unmittelbarer Wechſelbeziehung zu einander
ſtanden. Dort aber, wo der ſcheinbare Staubbach herniederwallte,
zeigt eine ſchmutzige, fahlfarbene Linie in Mitte des blendenden
Firnes, daß hier mehr als blos Schnee, daß Erde und Geſtein¬
ſchutt mit herabgekommen ſein muß, von denen Spuren zurückblieben. —
Dies iſt das Bild einer ſommerlichen Grund-Lauine von ent¬
ferntem, geſichertem Standpunkte ruhig und gemächlich betrachtet.
Könnte man mit bedeutend vergrößerndem, ſcharf-ſpecialiſirendem
Tubus die ſtürzende Lauine dem Auge näher rücken, wie ganz an¬
ders würde dieſe ſich geſtalten, wie würde ſie, gleich den ungeahnten
Zellgeweben der Organismen unterm Mikroſkop, ſich plötzlich zu
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |