Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Schneesturm.
jenen Alpeneinschnitten, durch welche Bergstraßen und Pässe hin¬
durchführen, und zwar sonderbarer Weise beim Nordwinde an der
südlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am
Heftigsten. Berüchtiget sind in dieser Beziehung ganz besonders
der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton
Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf
letzterem ward ein großer Theil des russischen Heeres unter Su¬
worow, bei der Retirade im October 1799, eine Beute der Schnee¬
stürme. Nach mündlichen Versicherungen der Bernhardiner Mönche
ist in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Mensch am
Großen St. Bernhard durch einen Schneesturm mehr ums Leben
gekommen.

Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den bösen Gast
anmelden. Die sonst matte, indifferent gräulich-weiße Färbung des
Horizontes, von der die Schneehülle der Berge kaum merklich im
Farbentone sich ablöst, wird bestimmter, dicker, gesättigter, man
sieht ihr gleichsam den größeren Stoffgehalt an; entfernte Gebirgs¬
züge, deren nackte Felsenknochen deutlich erkennbar heraustraten,
werden erst leicht, dann aber immer trüber und dichter verschleiert,
bis sie zuletzt ganz verschwinden. Die Luft ist ruhig, sehr kalt,
ohne jene kräftige säuerliche Winterfrische zu athmen, welche an
heiteren Januarmorgen im Flachlande die vom langen Stubensitzen
verdumpften Sinne völlig neu belebt; -- trockene, frostige, harte
Luft füllt die Atmosphäre. Dazu lagert ringsumher unbeschreiblich¬
lautlose Stille über der erstorbenen Einöde. Das sprungfertige
Volk der Gemsen, welches im Sommer diese Höhen belebt, wohnt
jetzt in tieferliegenden Forsten, -- das pfeifende Murmelthier liegt
im Winterschlafe erstarrt in seiner Höhle, und selbst die, im Winter
kreischend die zerspaltenen, schwer ersteigbaren Granitzinnen um¬
kreisende Bergdohle hat sich in ihr Kluftennest geflüchtet; kein dür¬
res Laub raschelt an den Aesten, denn in diesen Höhen hat der
Baumwuchs aufgehört, und die melancholische Legföhre und das

Der Schneeſturm.
jenen Alpeneinſchnitten, durch welche Bergſtraßen und Päſſe hin¬
durchführen, und zwar ſonderbarer Weiſe beim Nordwinde an der
ſüdlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am
Heftigſten. Berüchtiget ſind in dieſer Beziehung ganz beſonders
der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton
Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf
letzterem ward ein großer Theil des ruſſiſchen Heeres unter Su¬
worow, bei der Retirade im October 1799, eine Beute der Schnee¬
ſtürme. Nach mündlichen Verſicherungen der Bernhardiner Mönche
iſt in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Menſch am
Großen St. Bernhard durch einen Schneeſturm mehr ums Leben
gekommen.

Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den böſen Gaſt
anmelden. Die ſonſt matte, indifferent gräulich-weiße Färbung des
Horizontes, von der die Schneehülle der Berge kaum merklich im
Farbentone ſich ablöſt, wird beſtimmter, dicker, geſättigter, man
ſieht ihr gleichſam den größeren Stoffgehalt an; entfernte Gebirgs¬
züge, deren nackte Felſenknochen deutlich erkennbar heraustraten,
werden erſt leicht, dann aber immer trüber und dichter verſchleiert,
bis ſie zuletzt ganz verſchwinden. Die Luft iſt ruhig, ſehr kalt,
ohne jene kräftige ſäuerliche Winterfriſche zu athmen, welche an
heiteren Januarmorgen im Flachlande die vom langen Stubenſitzen
verdumpften Sinne völlig neu belebt; — trockene, froſtige, harte
Luft füllt die Atmoſphäre. Dazu lagert ringsumher unbeſchreiblich¬
lautloſe Stille über der erſtorbenen Einöde. Das ſprungfertige
Volk der Gemſen, welches im Sommer dieſe Höhen belebt, wohnt
jetzt in tieferliegenden Forſten, — das pfeifende Murmelthier liegt
im Winterſchlafe erſtarrt in ſeiner Höhle, und ſelbſt die, im Winter
kreiſchend die zerſpaltenen, ſchwer erſteigbaren Granitzinnen um¬
kreiſende Bergdohle hat ſich in ihr Kluftenneſt geflüchtet; kein dür¬
res Laub raſchelt an den Aeſten, denn in dieſen Höhen hat der
Baumwuchs aufgehört, und die melancholiſche Legföhre und das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0198" n="170"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Schnee&#x017F;turm</hi>.<lb/></fw> jenen Alpenein&#x017F;chnitten, durch welche Berg&#x017F;traßen und Pä&#x017F;&#x017F;e hin¬<lb/>
durchführen, und zwar &#x017F;onderbarer Wei&#x017F;e beim Nordwinde an der<lb/>
&#x017F;üdlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am<lb/>
Heftig&#x017F;ten. Berüchtiget &#x017F;ind in die&#x017F;er Beziehung ganz be&#x017F;onders<lb/>
der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton<lb/>
Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf<lb/>
letzterem ward ein großer Theil des ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Heeres unter Su¬<lb/>
worow, bei der Retirade im October 1799, eine Beute der Schnee¬<lb/>
&#x017F;türme. Nach mündlichen Ver&#x017F;icherungen der Bernhardiner Mönche<lb/>
i&#x017F;t in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Men&#x017F;ch am<lb/>
Großen St. Bernhard durch einen Schnee&#x017F;turm mehr ums Leben<lb/>
gekommen.</p><lb/>
        <p>Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den bö&#x017F;en Ga&#x017F;t<lb/>
anmelden. Die &#x017F;on&#x017F;t matte, indifferent gräulich-weiße Färbung des<lb/>
Horizontes, von der die Schneehülle der Berge kaum merklich im<lb/>
Farbentone &#x017F;ich ablö&#x017F;t, wird be&#x017F;timmter, dicker, ge&#x017F;ättigter, man<lb/>
&#x017F;ieht ihr gleich&#x017F;am den größeren Stoffgehalt an; entfernte Gebirgs¬<lb/>
züge, deren nackte Fel&#x017F;enknochen deutlich erkennbar heraustraten,<lb/>
werden er&#x017F;t leicht, dann aber immer trüber und dichter ver&#x017F;chleiert,<lb/>
bis &#x017F;ie zuletzt ganz ver&#x017F;chwinden. Die Luft i&#x017F;t ruhig, &#x017F;ehr kalt,<lb/>
ohne jene kräftige &#x017F;äuerliche Winterfri&#x017F;che zu athmen, welche an<lb/>
heiteren Januarmorgen im Flachlande die vom langen Stuben&#x017F;itzen<lb/>
verdumpften Sinne völlig neu belebt; &#x2014; trockene, fro&#x017F;tige, harte<lb/>
Luft füllt die Atmo&#x017F;phäre. Dazu lagert ringsumher unbe&#x017F;chreiblich¬<lb/>
lautlo&#x017F;e Stille über der er&#x017F;torbenen Einöde. Das &#x017F;prungfertige<lb/>
Volk der Gem&#x017F;en, welches im Sommer die&#x017F;e Höhen belebt, wohnt<lb/>
jetzt in tieferliegenden For&#x017F;ten, &#x2014; das pfeifende Murmelthier liegt<lb/>
im Winter&#x017F;chlafe er&#x017F;tarrt in &#x017F;einer Höhle, und &#x017F;elb&#x017F;t die, im Winter<lb/>
krei&#x017F;chend die zer&#x017F;paltenen, &#x017F;chwer er&#x017F;teigbaren Granitzinnen um¬<lb/>
krei&#x017F;ende Bergdohle hat &#x017F;ich in ihr Kluftenne&#x017F;t geflüchtet; kein dür¬<lb/>
res Laub ra&#x017F;chelt an den Ae&#x017F;ten, denn in die&#x017F;en Höhen hat der<lb/>
Baumwuchs aufgehört, und die melancholi&#x017F;che Legföhre und das<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0198] Der Schneeſturm. jenen Alpeneinſchnitten, durch welche Bergſtraßen und Päſſe hin¬ durchführen, und zwar ſonderbarer Weiſe beim Nordwinde an der ſüdlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am Heftigſten. Berüchtiget ſind in dieſer Beziehung ganz beſonders der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf letzterem ward ein großer Theil des ruſſiſchen Heeres unter Su¬ worow, bei der Retirade im October 1799, eine Beute der Schnee¬ ſtürme. Nach mündlichen Verſicherungen der Bernhardiner Mönche iſt in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Menſch am Großen St. Bernhard durch einen Schneeſturm mehr ums Leben gekommen. Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den böſen Gaſt anmelden. Die ſonſt matte, indifferent gräulich-weiße Färbung des Horizontes, von der die Schneehülle der Berge kaum merklich im Farbentone ſich ablöſt, wird beſtimmter, dicker, geſättigter, man ſieht ihr gleichſam den größeren Stoffgehalt an; entfernte Gebirgs¬ züge, deren nackte Felſenknochen deutlich erkennbar heraustraten, werden erſt leicht, dann aber immer trüber und dichter verſchleiert, bis ſie zuletzt ganz verſchwinden. Die Luft iſt ruhig, ſehr kalt, ohne jene kräftige ſäuerliche Winterfriſche zu athmen, welche an heiteren Januarmorgen im Flachlande die vom langen Stubenſitzen verdumpften Sinne völlig neu belebt; — trockene, froſtige, harte Luft füllt die Atmoſphäre. Dazu lagert ringsumher unbeſchreiblich¬ lautloſe Stille über der erſtorbenen Einöde. Das ſprungfertige Volk der Gemſen, welches im Sommer dieſe Höhen belebt, wohnt jetzt in tieferliegenden Forſten, — das pfeifende Murmelthier liegt im Winterſchlafe erſtarrt in ſeiner Höhle, und ſelbſt die, im Winter kreiſchend die zerſpaltenen, ſchwer erſteigbaren Granitzinnen um¬ kreiſende Bergdohle hat ſich in ihr Kluftenneſt geflüchtet; kein dür¬ res Laub raſchelt an den Aeſten, denn in dieſen Höhen hat der Baumwuchs aufgehört, und die melancholiſche Legföhre und das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/198
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/198>, abgerufen am 02.05.2024.