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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Kastanienwald.
Vaters strömt auch dessen ritterliches Blut in ihren Adern. Rundum
am Rande strecken sie, als Enden der Blattrippen, scharfe, leicht¬
gekrümmte Stachelspitzen hinaus, die jedes Blatt keck waffnen und
ihm ein durch und durch energisches Ansehen verleihen. Fest und
dauerkräftig, zäh und solid ist das ganze derbe Zellengewebe, glatt
und glänzend die frische tiefgrüne Oberfläche jedes Blattes. Darf
sich der Baum in seinem ganzen zuversichtlichen Wesen, in seiner
heroischen Architektur, dreist mit dem Urbilde der Kraft und Stärke,
mit der deutschen Eiche, auf gleiche Linie stellen, so darf es nicht
weniger das Blatt in seiner freien Naturwüchsigkeit.

Eben so appart und eigenförmig wie Stamm und Belaubung
sind endlich auch die Früchte und ihre Hülle. Unter unseren euro¬
päischen Pflanzen giebt es keine, welche ihre Samen in solche
dicht, mit langen, ungemein spitzen Nadeln bewaffnete Hülsen ein¬
schließt. Die Frucht der wilden oder Roß-Kastanie hat auch eine
ähnliche, mit scharfen Dornen besetzte äußere Schale, aber die Dor¬
nen sind kurz, stehen weit auseinander und erinnern höchstens an
die Gestalt der mittelalterlichen Morgenstern-Waffe. Die Hülle der
Marone oder eßbaren Kastanie, (die im October reift), ist ein zu
Schutz und Trutz gewaffnetes Noli me tangere, eine unantastbare
Stachelkugel, das vollendet ähnliche Miniatur-Ebenbild eines zusam¬
mengerollten Igels oder afrikanischen Stachelschweines. Würde
dieselbe beim Ausreifen nicht von selbst in drei Theile zerplatzen,
ähnlich wie die Becher der Buchnüßchen, so möchte es schwer hal¬
ten, die Kastanie aus ihrer dornumpanzerten Feste zu gewinnen.
Bekanntlich bildet sie bei den niederen Volksklassen des südlichen
Europa während der Wintermonate ein Hauptnahrungsmittel, das
die Stelle des Brodes vertreten muß; seit der immer mehr in Auf¬
nahme kommenden Kultur der Kartoffel scheint indessen der Werth
der Kastanie abzunehmen. In Italien ist "Chatigna", ein mit
Salzwasser aus dem Mehl der Marone bereiteter Brei, noch in vie¬
len Gegenden tägliches Tischgericht; -- im Tessin ißt man die Frucht

Kaſtanienwald.
Vaters ſtrömt auch deſſen ritterliches Blut in ihren Adern. Rundum
am Rande ſtrecken ſie, als Enden der Blattrippen, ſcharfe, leicht¬
gekrümmte Stachelſpitzen hinaus, die jedes Blatt keck waffnen und
ihm ein durch und durch energiſches Anſehen verleihen. Feſt und
dauerkräftig, zäh und ſolid iſt das ganze derbe Zellengewebe, glatt
und glänzend die friſche tiefgrüne Oberfläche jedes Blattes. Darf
ſich der Baum in ſeinem ganzen zuverſichtlichen Weſen, in ſeiner
heroiſchen Architektur, dreiſt mit dem Urbilde der Kraft und Stärke,
mit der deutſchen Eiche, auf gleiche Linie ſtellen, ſo darf es nicht
weniger das Blatt in ſeiner freien Naturwüchſigkeit.

Eben ſo appart und eigenförmig wie Stamm und Belaubung
ſind endlich auch die Früchte und ihre Hülle. Unter unſeren euro¬
päiſchen Pflanzen giebt es keine, welche ihre Samen in ſolche
dicht, mit langen, ungemein ſpitzen Nadeln bewaffnete Hülſen ein¬
ſchließt. Die Frucht der wilden oder Roß-Kaſtanie hat auch eine
ähnliche, mit ſcharfen Dornen beſetzte äußere Schale, aber die Dor¬
nen ſind kurz, ſtehen weit auseinander und erinnern höchſtens an
die Geſtalt der mittelalterlichen Morgenſtern-Waffe. Die Hülle der
Marone oder eßbaren Kaſtanie, (die im October reift), iſt ein zu
Schutz und Trutz gewaffnetes Noli me tangere, eine unantaſtbare
Stachelkugel, das vollendet ähnliche Miniatur-Ebenbild eines zuſam¬
mengerollten Igels oder afrikaniſchen Stachelſchweines. Würde
dieſelbe beim Ausreifen nicht von ſelbſt in drei Theile zerplatzen,
ähnlich wie die Becher der Buchnüßchen, ſo möchte es ſchwer hal¬
ten, die Kaſtanie aus ihrer dornumpanzerten Feſte zu gewinnen.
Bekanntlich bildet ſie bei den niederen Volksklaſſen des ſüdlichen
Europa während der Wintermonate ein Hauptnahrungsmittel, das
die Stelle des Brodes vertreten muß; ſeit der immer mehr in Auf¬
nahme kommenden Kultur der Kartoffel ſcheint indeſſen der Werth
der Kaſtanie abzunehmen. In Italien iſt „Chatigna“, ein mit
Salzwaſſer aus dem Mehl der Marone bereiteter Brei, noch in vie¬
len Gegenden tägliches Tiſchgericht; — im Teſſin ißt man die Frucht

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[116/0144] Kaſtanienwald. Vaters ſtrömt auch deſſen ritterliches Blut in ihren Adern. Rundum am Rande ſtrecken ſie, als Enden der Blattrippen, ſcharfe, leicht¬ gekrümmte Stachelſpitzen hinaus, die jedes Blatt keck waffnen und ihm ein durch und durch energiſches Anſehen verleihen. Feſt und dauerkräftig, zäh und ſolid iſt das ganze derbe Zellengewebe, glatt und glänzend die friſche tiefgrüne Oberfläche jedes Blattes. Darf ſich der Baum in ſeinem ganzen zuverſichtlichen Weſen, in ſeiner heroiſchen Architektur, dreiſt mit dem Urbilde der Kraft und Stärke, mit der deutſchen Eiche, auf gleiche Linie ſtellen, ſo darf es nicht weniger das Blatt in ſeiner freien Naturwüchſigkeit. Eben ſo appart und eigenförmig wie Stamm und Belaubung ſind endlich auch die Früchte und ihre Hülle. Unter unſeren euro¬ päiſchen Pflanzen giebt es keine, welche ihre Samen in ſolche dicht, mit langen, ungemein ſpitzen Nadeln bewaffnete Hülſen ein¬ ſchließt. Die Frucht der wilden oder Roß-Kaſtanie hat auch eine ähnliche, mit ſcharfen Dornen beſetzte äußere Schale, aber die Dor¬ nen ſind kurz, ſtehen weit auseinander und erinnern höchſtens an die Geſtalt der mittelalterlichen Morgenſtern-Waffe. Die Hülle der Marone oder eßbaren Kaſtanie, (die im October reift), iſt ein zu Schutz und Trutz gewaffnetes Noli me tangere, eine unantaſtbare Stachelkugel, das vollendet ähnliche Miniatur-Ebenbild eines zuſam¬ mengerollten Igels oder afrikaniſchen Stachelſchweines. Würde dieſelbe beim Ausreifen nicht von ſelbſt in drei Theile zerplatzen, ähnlich wie die Becher der Buchnüßchen, ſo möchte es ſchwer hal¬ ten, die Kaſtanie aus ihrer dornumpanzerten Feſte zu gewinnen. Bekanntlich bildet ſie bei den niederen Volksklaſſen des ſüdlichen Europa während der Wintermonate ein Hauptnahrungsmittel, das die Stelle des Brodes vertreten muß; ſeit der immer mehr in Auf¬ nahme kommenden Kultur der Kartoffel ſcheint indeſſen der Werth der Kaſtanie abzunehmen. In Italien iſt „Chatigna“, ein mit Salzwaſſer aus dem Mehl der Marone bereiteter Brei, noch in vie¬ len Gegenden tägliches Tiſchgericht; — im Teſſin ißt man die Frucht

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/144>, abgerufen am 25.11.2024.