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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873.

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Politische Anschauungen der Chinesen.
auf dem Throne sitzt, in China zu Aufständen und zum Sturze von
Dynastieen geführt. Legitimität in unserem Sinne kennt die chine-
sische Anschauung nicht; durch seine Geburt hat Niemand ein
Recht auf den Thron, und die Primogenitur hat gar keine Bedeu-
tung. Als erwählter Himmelssohn muss aber der Kaiser am besten
wissen, wer berufen und würdig ist, sein Nachfolger zu werden;
er wählt denselben natürlich unter seinen Söhnen und Agnaten,
denn die Familie des Erwählten ist selbstredend auch die vor-
nehmste, die vorzüglichste des Reiches. Nur in diesem Sinne ist
der Thron von China erblich. Der Kaiser ernennt seinen Nach-
folger im Testament; dieser hat aber erst durch seine Handlungen
und durch den Segen, den er über das Reich verbreitet, zu be-
weisen, dass er wirklich der Erwählte des Himmels ist. Das Volk
glaubt es, so lange es ihm wohl geht. Wird es aber von Unheil
betroffen, so folgt es leicht jedem Führer zum Kampfe gegen den
vermeintlichen Usurpator, der, unberufen auf dem Throne sitzend,
das Verderben des Reiches verschuldet. Das hereingebrochene
Unheil beweist ja, dass die Verbindung mit der lenkenden Welt-
ordnung unterbrochen ist. Der Kaiser allein darf zum Himmel
beten; als dessen Vertreter regiert er das Volk. Sitzt nun ein
Falscher auf dem Throne, so ist der Aufruhr berechtigt, geboten.
Rebellen kämpfen mit dem Fanatismus von Gottesstreitern, die be-
rufen sind, den Willen der Vorsehung durchzusetzen, das Reich
von dem unrechtmässigen, weil nicht mehr begnadigten Herrscher
zu befreien und den rechtmässigen, erwählten Himmelssohn auf den
Thron zu setzen. Das ist, abgesehen von den menschlichen Leiden-
schaften, auf deren Boden ja die meisten politischen Bewegungen
wurzeln, der ostensible Zweck aller chinesischen Rebellionen und
die Idee, welche die Massen treibt, für die Selbstsucht der Führer
ihr Leben zu lassen. So viele Umwälzungen es im Laufe der Jahr-
tausende in China gegeben hat: die unumschränkte Macht des
Herrschers ist niemals, vielleicht auch nicht in Gedanken angetastet
worden. Das politische Grundprincip steht auch heute noch un-
angefochten da und wurzelt so tief im Bewusstsein des Volkes, vor
allem der gebildeten Classen, welche seinen Kern bilden, dass man
sich über den fremdenfeindlichen Fanatismus der altchinesischen
Partei nicht wundern darf. Die einheimischen Umwälzungen waren
immer nur Rebellionen, niemals Revolutionen; sie richteten sich nie-
mals gegen ein politisches Princip, sondern immer nur gegen Per-

Politische Anschauungen der Chinesen.
auf dem Throne sitzt, in China zu Aufständen und zum Sturze von
Dynastieen geführt. Legitimität in unserem Sinne kennt die chine-
sische Anschauung nicht; durch seine Geburt hat Niemand ein
Recht auf den Thron, und die Primogenitur hat gar keine Bedeu-
tung. Als erwählter Himmelssohn muss aber der Kaiser am besten
wissen, wer berufen und würdig ist, sein Nachfolger zu werden;
er wählt denselben natürlich unter seinen Söhnen und Agnaten,
denn die Familie des Erwählten ist selbstredend auch die vor-
nehmste, die vorzüglichste des Reiches. Nur in diesem Sinne ist
der Thron von China erblich. Der Kaiser ernennt seinen Nach-
folger im Testament; dieser hat aber erst durch seine Handlungen
und durch den Segen, den er über das Reich verbreitet, zu be-
weisen, dass er wirklich der Erwählte des Himmels ist. Das Volk
glaubt es, so lange es ihm wohl geht. Wird es aber von Unheil
betroffen, so folgt es leicht jedem Führer zum Kampfe gegen den
vermeintlichen Usurpator, der, unberufen auf dem Throne sitzend,
das Verderben des Reiches verschuldet. Das hereingebrochene
Unheil beweist ja, dass die Verbindung mit der lenkenden Welt-
ordnung unterbrochen ist. Der Kaiser allein darf zum Himmel
beten; als dessen Vertreter regiert er das Volk. Sitzt nun ein
Falscher auf dem Throne, so ist der Aufruhr berechtigt, geboten.
Rebellen kämpfen mit dem Fanatismus von Gottesstreitern, die be-
rufen sind, den Willen der Vorsehung durchzusetzen, das Reich
von dem unrechtmässigen, weil nicht mehr begnadigten Herrscher
zu befreien und den rechtmässigen, erwählten Himmelssohn auf den
Thron zu setzen. Das ist, abgesehen von den menschlichen Leiden-
schaften, auf deren Boden ja die meisten politischen Bewegungen
wurzeln, der ostensible Zweck aller chinesischen Rebellionen und
die Idee, welche die Massen treibt, für die Selbstsucht der Führer
ihr Leben zu lassen. So viele Umwälzungen es im Laufe der Jahr-
tausende in China gegeben hat: die unumschränkte Macht des
Herrschers ist niemals, vielleicht auch nicht in Gedanken angetastet
worden. Das politische Grundprincip steht auch heute noch un-
angefochten da und wurzelt so tief im Bewusstsein des Volkes, vor
allem der gebildeten Classen, welche seinen Kern bilden, dass man
sich über den fremdenfeindlichen Fanatismus der altchinesischen
Partei nicht wundern darf. Die einheimischen Umwälzungen waren
immer nur Rebellionen, niemals Revolutionen; sie richteten sich nie-
mals gegen ein politisches Princip, sondern immer nur gegen Per-

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[21/0043] Politische Anschauungen der Chinesen. auf dem Throne sitzt, in China zu Aufständen und zum Sturze von Dynastieen geführt. Legitimität in unserem Sinne kennt die chine- sische Anschauung nicht; durch seine Geburt hat Niemand ein Recht auf den Thron, und die Primogenitur hat gar keine Bedeu- tung. Als erwählter Himmelssohn muss aber der Kaiser am besten wissen, wer berufen und würdig ist, sein Nachfolger zu werden; er wählt denselben natürlich unter seinen Söhnen und Agnaten, denn die Familie des Erwählten ist selbstredend auch die vor- nehmste, die vorzüglichste des Reiches. Nur in diesem Sinne ist der Thron von China erblich. Der Kaiser ernennt seinen Nach- folger im Testament; dieser hat aber erst durch seine Handlungen und durch den Segen, den er über das Reich verbreitet, zu be- weisen, dass er wirklich der Erwählte des Himmels ist. Das Volk glaubt es, so lange es ihm wohl geht. Wird es aber von Unheil betroffen, so folgt es leicht jedem Führer zum Kampfe gegen den vermeintlichen Usurpator, der, unberufen auf dem Throne sitzend, das Verderben des Reiches verschuldet. Das hereingebrochene Unheil beweist ja, dass die Verbindung mit der lenkenden Welt- ordnung unterbrochen ist. Der Kaiser allein darf zum Himmel beten; als dessen Vertreter regiert er das Volk. Sitzt nun ein Falscher auf dem Throne, so ist der Aufruhr berechtigt, geboten. Rebellen kämpfen mit dem Fanatismus von Gottesstreitern, die be- rufen sind, den Willen der Vorsehung durchzusetzen, das Reich von dem unrechtmässigen, weil nicht mehr begnadigten Herrscher zu befreien und den rechtmässigen, erwählten Himmelssohn auf den Thron zu setzen. Das ist, abgesehen von den menschlichen Leiden- schaften, auf deren Boden ja die meisten politischen Bewegungen wurzeln, der ostensible Zweck aller chinesischen Rebellionen und die Idee, welche die Massen treibt, für die Selbstsucht der Führer ihr Leben zu lassen. So viele Umwälzungen es im Laufe der Jahr- tausende in China gegeben hat: die unumschränkte Macht des Herrschers ist niemals, vielleicht auch nicht in Gedanken angetastet worden. Das politische Grundprincip steht auch heute noch un- angefochten da und wurzelt so tief im Bewusstsein des Volkes, vor allem der gebildeten Classen, welche seinen Kern bilden, dass man sich über den fremdenfeindlichen Fanatismus der altchinesischen Partei nicht wundern darf. Die einheimischen Umwälzungen waren immer nur Rebellionen, niemals Revolutionen; sie richteten sich nie- mals gegen ein politisches Princip, sondern immer nur gegen Per-

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/43>, abgerufen am 29.03.2024.