ein siecher Körper lebt oft eben so lange als ein gesunder, und wie der "kranke Mann" an Europas Grenze, so kann auch der ab- gelebte Stamm an Asiens äusserstem Ende immer weiter vegetiren, ohne Blüthen zu treiben, ohne zu verdorren. Die Masse ist zu gross, um von selbst zusammenzubrechen; die Krankheit einzelner Glieder überwindet der gewaltige Körper. China lebt fort nach dem Gesetze der Trägheit, dem stärksten Moment bei grossen Massen, die um den eigenen Schwerpunct gravitiren, um die selbst losgelöste Theile weiter kreisen, bis äussere Gewalt den Bann zerstört.
Im August 1860 kam der americanische Missionar Holmes nach Nan-kin. Der Tien-wan schien erfreut über die Ankunft eines fremden Geistlichen und wollte ihn empfangen, verlangte aber, dass Herr Holmes in chinesischen Gewändern erscheine, Rang und Titel von ihm annehme und vor ihm niederkniee. Dess wei- gerte sich der Americaner. Nach langen Verhandlungen erschien ein Edict von des Tien-wan elfjährigem Sohne, welcher damals schon göttliche Ehren genoss und alle Decrete in Religions- und Regierungssachen zu erlassen pflegte: den Völkern des Westens werde kund gethan, dass er und sein Vater geruhen wollten, den Besuch des ehrwürdigen Herrn zu empfangen. -- Den folgenden Morgen -- einen Sabbath -- bei Tagesgrauen führte eine bunte Procession mit fliegenden Bannern und Musik Herrn Holmes nach dem Palast; er selbst war zu Pferde, die "Könige" folgten in prächtigen Sänften. Den Palast, an dem noch gebaut wurde, ver- gleicht Herr Holmes mit den grössten Confucius-Tempeln; in der Audienzhalle stellte man ihn zwei Brüdern, zwei Neffen und dem Schwiegersohn des Tien-wan vor, welche am Eingang eines zurück- springenden Gemaches sassen. Darüber standen die Worte: Er- habenes Himmelsthor; im tiefsten Hintergrund sah man den leeren Thron des himmlischen Fürsten. Nach einiger Zeit erschien der zwölfjährige Westkönig, ein Brudersohn des Tien-wan; er setzte sich zu seinen Verwandten und die Feierlichkeit begann. "Zuerst," erzählt der Missionar, "knieten die Tae-pin mit dem Gesicht nach dem Throne des Tien-wan nieder und recitirten ein Gebet an den "himmlischen Bruder"; dann knieten sie nach der entgegengesetzten Richtung und sagten ein Gebet an den "himmlischen Vater"; dann knieten sie wieder mit dem Gesicht gegen den Stuhl des Tien-wan und beteten abermals zu ihm; darauf schlossen sie die Feierlich-
III. 26
XIII. Missionar in Nan-kiṅ.
ein siecher Körper lebt oft eben so lange als ein gesunder, und wie der »kranke Mann« an Europas Grenze, so kann auch der ab- gelebte Stamm an Asiens äusserstem Ende immer weiter vegetiren, ohne Blüthen zu treiben, ohne zu verdorren. Die Masse ist zu gross, um von selbst zusammenzubrechen; die Krankheit einzelner Glieder überwindet der gewaltige Körper. China lebt fort nach dem Gesetze der Trägheit, dem stärksten Moment bei grossen Massen, die um den eigenen Schwerpunct gravitiren, um die selbst losgelöste Theile weiter kreisen, bis äussere Gewalt den Bann zerstört.
Im August 1860 kam der americanische Missionar Holmes nach Nan-kiṅ. Der Tien-waṅ schien erfreut über die Ankunft eines fremden Geistlichen und wollte ihn empfangen, verlangte aber, dass Herr Holmes in chinesischen Gewändern erscheine, Rang und Titel von ihm annehme und vor ihm niederkniee. Dess wei- gerte sich der Americaner. Nach langen Verhandlungen erschien ein Edict von des Tien-waṅ elfjährigem Sohne, welcher damals schon göttliche Ehren genoss und alle Decrete in Religions- und Regierungssachen zu erlassen pflegte: den Völkern des Westens werde kund gethan, dass er und sein Vater geruhen wollten, den Besuch des ehrwürdigen Herrn zu empfangen. — Den folgenden Morgen — einen Sabbath — bei Tagesgrauen führte eine bunte Procession mit fliegenden Bannern und Musik Herrn Holmes nach dem Palast; er selbst war zu Pferde, die »Könige« folgten in prächtigen Sänften. Den Palast, an dem noch gebaut wurde, ver- gleicht Herr Holmes mit den grössten Confucius-Tempeln; in der Audienzhalle stellte man ihn zwei Brüdern, zwei Neffen und dem Schwiegersohn des Tien-waṅ vor, welche am Eingang eines zurück- springenden Gemaches sassen. Darüber standen die Worte: Er- habenes Himmelsthor; im tiefsten Hintergrund sah man den leeren Thron des himmlischen Fürsten. Nach einiger Zeit erschien der zwölfjährige Westkönig, ein Brudersohn des Tien-waṅ; er setzte sich zu seinen Verwandten und die Feierlichkeit begann. »Zuerst,« erzählt der Missionar, »knieten die Tae-piṅ mit dem Gesicht nach dem Throne des Tien-waṅ nieder und recitirten ein Gebet an den »himmlischen Bruder«; dann knieten sie nach der entgegengesetzten Richtung und sagten ein Gebet an den »himmlischen Vater«; dann knieten sie wieder mit dem Gesicht gegen den Stuhl des Tien-waṅ und beteten abermals zu ihm; darauf schlossen sie die Feierlich-
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XIII. Missionar in Nan-kiṅ.
ein siecher Körper lebt oft eben so lange als ein gesunder, und
wie der »kranke Mann« an Europas Grenze, so kann auch der ab-
gelebte Stamm an Asiens äusserstem Ende immer weiter vegetiren,
ohne Blüthen zu treiben, ohne zu verdorren. Die Masse ist zu
gross, um von selbst zusammenzubrechen; die Krankheit einzelner
Glieder überwindet der gewaltige Körper. China lebt fort nach
dem Gesetze der Trägheit, dem stärksten Moment bei grossen
Massen, die um den eigenen Schwerpunct gravitiren, um die selbst
losgelöste Theile weiter kreisen, bis äussere Gewalt den Bann
zerstört.
Im August 1860 kam der americanische Missionar Holmes
nach Nan-kiṅ. Der Tien-waṅ schien erfreut über die Ankunft
eines fremden Geistlichen und wollte ihn empfangen, verlangte
aber, dass Herr Holmes in chinesischen Gewändern erscheine, Rang
und Titel von ihm annehme und vor ihm niederkniee. Dess wei-
gerte sich der Americaner. Nach langen Verhandlungen erschien
ein Edict von des Tien-waṅ elfjährigem Sohne, welcher damals
schon göttliche Ehren genoss und alle Decrete in Religions- und
Regierungssachen zu erlassen pflegte: den Völkern des Westens
werde kund gethan, dass er und sein Vater geruhen wollten, den
Besuch des ehrwürdigen Herrn zu empfangen. — Den folgenden
Morgen — einen Sabbath — bei Tagesgrauen führte eine bunte
Procession mit fliegenden Bannern und Musik Herrn Holmes nach
dem Palast; er selbst war zu Pferde, die »Könige« folgten in
prächtigen Sänften. Den Palast, an dem noch gebaut wurde, ver-
gleicht Herr Holmes mit den grössten Confucius-Tempeln; in der
Audienzhalle stellte man ihn zwei Brüdern, zwei Neffen und dem
Schwiegersohn des Tien-waṅ vor, welche am Eingang eines zurück-
springenden Gemaches sassen. Darüber standen die Worte: Er-
habenes Himmelsthor; im tiefsten Hintergrund sah man den leeren
Thron des himmlischen Fürsten. Nach einiger Zeit erschien der
zwölfjährige Westkönig, ein Brudersohn des Tien-waṅ; er setzte
sich zu seinen Verwandten und die Feierlichkeit begann. »Zuerst,«
erzählt der Missionar, »knieten die Tae-piṅ mit dem Gesicht nach
dem Throne des Tien-waṅ nieder und recitirten ein Gebet an den
»himmlischen Bruder«; dann knieten sie nach der entgegengesetzten
Richtung und sagten ein Gebet an den »himmlischen Vater«; dann
knieten sie wieder mit dem Gesicht gegen den Stuhl des Tien-waṅ
und beteten abermals zu ihm; darauf schlossen sie die Feierlich-
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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/423>, abgerufen am 16.02.2025.
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