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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873.

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Die Lehre des Hun-siu-tsuen.
Bekenntniss hat sein historisches Element. Neben den rein mensch-
lichen Anschauungen, der gemeinsamen Grundlage der Gesittung
aller verschiedenen Völker, hat jeder Stamm seine eigenthümlichen,
nationalen, welche seine Gesittung bedingen. Je stärker ausgeprägt,
je weiter durchgebildet diese sind, desto abweichender müssen
sich, von denselben Grundlagen ausgehend, die Bekenntnisse
der verschiedenen Stämme entwickeln. Die angebornen und
anerzogenen Anschauungen der heutigen Chinesen sind himmelweit
verschieden von denen der Indogermanen. -- Hun-siu-tsuen eig-
nete sich in seiner Jugend die altchinesische Moral-Philosophie,
wie sie in den heiligen Büchern und den darauf fussenden classi-
schen Schriften enthalten ist, in ihrer vollen Ausdehnung an; von
diesem Standpunkt aus betrachtete er die christlichen Glaubens-
lehren. Der kurze Unterricht des Missionars Roberts scheint wenig
auf ihn gewirkt zu haben, eben so wenig das Buch des Lian-a-fa,
das von geringer Bildung und plumpem Geiste zeugen soll. Hun-
siu-tsuen
war dreissig Jahre, als er auf dasselbe aufmerksam
wurde; dass er nachher die Bibelübersetzung von Morrison las,
beweisen seine Schriften. Durch das Studium der heiligen Bücher
seines Volkes hatte sein Seelenleben feste Richtung gewonnen; er
war durch und durch Chinese. Der historische Inhalt der Bibel
mag in der Uebersetzung kaum anders lauten, als Erzählungen von
fernen Stämmen des chinesischen Alterthums. In seinem nationalen
Bewusstsein knüpfte Hun an San-ti, den höchsten Herrn, an, welchen
uralte Herrscher angebetet haben. Diesen San-ti, welcher in den
heiligen Büchern der Chinesen nur selten vorkommt, fand er in der Bibel
auf jedem Blatt; er fand dessen zweiten Namen, Vater, Fu, einen
jedem Chinesen heiligen Begriff, mit dem Worte Himmel, Tien,
verbunden, welches Vorsehung, göttliche Weltordnung, höchstes
Gutes bedeutet, welchem nur der dem Worte Fu beiwohnende Be-
griff der Persönlichkeit fehlt, um die Gottheit selbst zu bezeichnen.
Als Mensch von religiösem Bedürfniss mochte Hun-siu-tsuen kaum
zu der atheistischen Deutung neigen, welche die meisten chinesi-
schen Philosophen den Ausdrücken San-ti und Tien geben, und
sich schon früh zur deistischen Auslegung derselben bekannt
haben, soweit die Lehren des Confucius das zuliessen. Der Ueber-
gang war um so leichter, als die Sittengesetze in den heiligen
Büchern mit denen der Bibel in Einklang stehen. So knüpft Hun-
siu-tsuen
in seinen frühesten Schriften an bekannte chinesische

Die Lehre des Huṅ-siu-tsuen.
Bekenntniss hat sein historisches Element. Neben den rein mensch-
lichen Anschauungen, der gemeinsamen Grundlage der Gesittung
aller verschiedenen Völker, hat jeder Stamm seine eigenthümlichen,
nationalen, welche seine Gesittung bedingen. Je stärker ausgeprägt,
je weiter durchgebildet diese sind, desto abweichender müssen
sich, von denselben Grundlagen ausgehend, die Bekenntnisse
der verschiedenen Stämme entwickeln. Die angebornen und
anerzogenen Anschauungen der heutigen Chinesen sind himmelweit
verschieden von denen der Indogermanen. — Huṅ-siu-tsuen eig-
nete sich in seiner Jugend die altchinesische Moral-Philosophie,
wie sie in den heiligen Büchern und den darauf fussenden classi-
schen Schriften enthalten ist, in ihrer vollen Ausdehnung an; von
diesem Standpunkt aus betrachtete er die christlichen Glaubens-
lehren. Der kurze Unterricht des Missionars Roberts scheint wenig
auf ihn gewirkt zu haben, eben so wenig das Buch des Liaṅ-a-fa,
das von geringer Bildung und plumpem Geiste zeugen soll. Huṅ-
siu-tsuen
war dreissig Jahre, als er auf dasselbe aufmerksam
wurde; dass er nachher die Bibelübersetzung von Morrison las,
beweisen seine Schriften. Durch das Studium der heiligen Bücher
seines Volkes hatte sein Seelenleben feste Richtung gewonnen; er
war durch und durch Chinese. Der historische Inhalt der Bibel
mag in der Uebersetzung kaum anders lauten, als Erzählungen von
fernen Stämmen des chinesischen Alterthums. In seinem nationalen
Bewusstsein knüpfte Huṅ an Šaṅ-ti, den höchsten Herrn, an, welchen
uralte Herrscher angebetet haben. Diesen Šaṅ-ti, welcher in den
heiligen Büchern der Chinesen nur selten vorkommt, fand er in der Bibel
auf jedem Blatt; er fand dessen zweiten Namen, Vater, Fu, einen
jedem Chinesen heiligen Begriff, mit dem Worte Himmel, Tien,
verbunden, welches Vorsehung, göttliche Weltordnung, höchstes
Gutes bedeutet, welchem nur der dem Worte Fu beiwohnende Be-
griff der Persönlichkeit fehlt, um die Gottheit selbst zu bezeichnen.
Als Mensch von religiösem Bedürfniss mochte Huṅ-siu-tsuen kaum
zu der atheistischen Deutung neigen, welche die meisten chinesi-
schen Philosophen den Ausdrücken Šaṅ-ti und Tien geben, und
sich schon früh zur deistischen Auslegung derselben bekannt
haben, soweit die Lehren des Confucius das zuliessen. Der Ueber-
gang war um so leichter, als die Sittengesetze in den heiligen
Büchern mit denen der Bibel in Einklang stehen. So knüpft Huṅ-
siu-tsuen
in seinen frühesten Schriften an bekannte chinesische

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[198/0220] Die Lehre des Huṅ-siu-tsuen. Bekenntniss hat sein historisches Element. Neben den rein mensch- lichen Anschauungen, der gemeinsamen Grundlage der Gesittung aller verschiedenen Völker, hat jeder Stamm seine eigenthümlichen, nationalen, welche seine Gesittung bedingen. Je stärker ausgeprägt, je weiter durchgebildet diese sind, desto abweichender müssen sich, von denselben Grundlagen ausgehend, die Bekenntnisse der verschiedenen Stämme entwickeln. Die angebornen und anerzogenen Anschauungen der heutigen Chinesen sind himmelweit verschieden von denen der Indogermanen. — Huṅ-siu-tsuen eig- nete sich in seiner Jugend die altchinesische Moral-Philosophie, wie sie in den heiligen Büchern und den darauf fussenden classi- schen Schriften enthalten ist, in ihrer vollen Ausdehnung an; von diesem Standpunkt aus betrachtete er die christlichen Glaubens- lehren. Der kurze Unterricht des Missionars Roberts scheint wenig auf ihn gewirkt zu haben, eben so wenig das Buch des Liaṅ-a-fa, das von geringer Bildung und plumpem Geiste zeugen soll. Huṅ- siu-tsuen war dreissig Jahre, als er auf dasselbe aufmerksam wurde; dass er nachher die Bibelübersetzung von Morrison las, beweisen seine Schriften. Durch das Studium der heiligen Bücher seines Volkes hatte sein Seelenleben feste Richtung gewonnen; er war durch und durch Chinese. Der historische Inhalt der Bibel mag in der Uebersetzung kaum anders lauten, als Erzählungen von fernen Stämmen des chinesischen Alterthums. In seinem nationalen Bewusstsein knüpfte Huṅ an Šaṅ-ti, den höchsten Herrn, an, welchen uralte Herrscher angebetet haben. Diesen Šaṅ-ti, welcher in den heiligen Büchern der Chinesen nur selten vorkommt, fand er in der Bibel auf jedem Blatt; er fand dessen zweiten Namen, Vater, Fu, einen jedem Chinesen heiligen Begriff, mit dem Worte Himmel, Tien, verbunden, welches Vorsehung, göttliche Weltordnung, höchstes Gutes bedeutet, welchem nur der dem Worte Fu beiwohnende Be- griff der Persönlichkeit fehlt, um die Gottheit selbst zu bezeichnen. Als Mensch von religiösem Bedürfniss mochte Huṅ-siu-tsuen kaum zu der atheistischen Deutung neigen, welche die meisten chinesi- schen Philosophen den Ausdrücken Šaṅ-ti und Tien geben, und sich schon früh zur deistischen Auslegung derselben bekannt haben, soweit die Lehren des Confucius das zuliessen. Der Ueber- gang war um so leichter, als die Sittengesetze in den heiligen Büchern mit denen der Bibel in Einklang stehen. So knüpft Huṅ- siu-tsuen in seinen frühesten Schriften an bekannte chinesische

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/220>, abgerufen am 27.04.2024.