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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864.

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Der Mikado.
zu schlafen vorgiebt. Die Frauen wohnen jede in einem besonderen
Hause, die Abendmalzeit wird bei allen aufgetragen; bei welcher
dann der Mikado erscheint, vereinigen sich auch die übrigen zum
Schmause, zu Gesang, Tanz und Saitenspiel. Nach dem Volks-
glauben stirbt kein Mikado kinderlos; hat er selbst keinen Sohn,
so schenkt ihm der Himmel einen, d. h. er findet unter einem
Baume am Eingang des Palastes ein mit seiner Bewilligung aus
den Agnaten gewähltes Kind. Dies scheint die übliche Form der
Adoption im Hause des Mikado zu sein. -- Im Palaste sollen viele
Götzenbilder stehen; die Missionare erzählen, dass, wenn ein
Unglück das Land betrifft, die Erbkaiser einen dieser Götzen
beschuldigen und auspeitschen lassen, ihn nachher aber, um von
seinem Zorne nicht Schaden zu leiden, wieder zu Gnaden aufnehmen
und besänftigen. Nach uralter ostasiatischer Anschauung ist der
Herrscher selbst für jedes das Land betreffende Unglück verant-
wortlich, wie auch der Urheber allen Segens. Sturm und Sonnen-
schein, Fruchtbarkeit und Misswachs, Erdbeben und Feuersbrünste
kommen eben so gut auf seine Rechnung, als Kriegsruhm und Nie-
derlagen, schlechte und gute Verwaltung. Kämpfer erzählt, dass
in früherer Zeit der Mikado mit der Krone auf dem Haupte zum
Wohle des Reiches täglich einige Stunden regungslos auf dem
Throne habe sitzen müssen; rührte er sich nach der einen oder
anderen Seite, so war in dieser Richtung das grösste Unglück zu
befürchten. Später fand man, dass der Zweck viel leichter erreicht
würde, wenn man die Krone allein auf den Thron setzte, bei der
eine unwillkührliche Bewegung nicht leicht zu besorgen war. -- Der
Namen des regierenden Mikado wird geheim gehalten so lange er
lebt, und es ist bei Todesstrafe verboten ihn auszusprechen; man
bezeichnet seine Person gewöhnlich mit dem Ausdruck Dairi,
d. h. Palast 109).


109) Nach seinem Tode erhält jeder Mikado einen Ehrennamen, mit welchem
er in der Geschichte bezeichnet wird. Nach Klaproth (Note zu den Kaiserannalen)
hatten diese Namen in der frühesten Zeit Beziehung auf die Eigenschaften der ver-
storbenen Erbkaiser; seit dem sechsundfunfzigsten Mikado aber gab man ihnen die
Namen der Paläste, welche sie bewohnt hatten. Beim Tode des Mikado wurde
dessen Wohnpalast zerstört und für seinen Nachfolger ein neuer gebaut. Alle
Erbkaiser bis zum einundsechszigsten führen den Titel "Ten-o", d. h. der Er-
habene vom Himmel. Der einundsechszigste nahm den Titel "In" an, d. h.
Palast; sein Name ist Dsu-dsiak-no-in, d. h. der Palast des rothen Vogels. Der

Der Mikado.
zu schlafen vorgiebt. Die Frauen wohnen jede in einem besonderen
Hause, die Abendmalzeit wird bei allen aufgetragen; bei welcher
dann der Mikado erscheint, vereinigen sich auch die übrigen zum
Schmause, zu Gesang, Tanz und Saitenspiel. Nach dem Volks-
glauben stirbt kein Mikado kinderlos; hat er selbst keinen Sohn,
so schenkt ihm der Himmel einen, d. h. er findet unter einem
Baume am Eingang des Palastes ein mit seiner Bewilligung aus
den Agnaten gewähltes Kind. Dies scheint die übliche Form der
Adoption im Hause des Mikado zu sein. — Im Palaste sollen viele
Götzenbilder stehen; die Missionare erzählen, dass, wenn ein
Unglück das Land betrifft, die Erbkaiser einen dieser Götzen
beschuldigen und auspeitschen lassen, ihn nachher aber, um von
seinem Zorne nicht Schaden zu leiden, wieder zu Gnaden aufnehmen
und besänftigen. Nach uralter ostasiatischer Anschauung ist der
Herrscher selbst für jedes das Land betreffende Unglück verant-
wortlich, wie auch der Urheber allen Segens. Sturm und Sonnen-
schein, Fruchtbarkeit und Misswachs, Erdbeben und Feuersbrünste
kommen eben so gut auf seine Rechnung, als Kriegsruhm und Nie-
derlagen, schlechte und gute Verwaltung. Kämpfer erzählt, dass
in früherer Zeit der Mikado mit der Krone auf dem Haupte zum
Wohle des Reiches täglich einige Stunden regungslos auf dem
Throne habe sitzen müssen; rührte er sich nach der einen oder
anderen Seite, so war in dieser Richtung das grösste Unglück zu
befürchten. Später fand man, dass der Zweck viel leichter erreicht
würde, wenn man die Krone allein auf den Thron setzte, bei der
eine unwillkührliche Bewegung nicht leicht zu besorgen war. — Der
Namen des regierenden Mikado wird geheim gehalten so lange er
lebt, und es ist bei Todesstrafe verboten ihn auszusprechen; man
bezeichnet seine Person gewöhnlich mit dem Ausdruck Daïri,
d. h. Palast 109).


109) Nach seinem Tode erhält jeder Mikado einen Ehrennamen, mit welchem
er in der Geschichte bezeichnet wird. Nach Klaproth (Note zu den Kaiserannalen)
hatten diese Namen in der frühesten Zeit Beziehung auf die Eigenschaften der ver-
storbenen Erbkaiser; seit dem sechsundfunfzigsten Mikado aber gab man ihnen die
Namen der Paläste, welche sie bewohnt hatten. Beim Tode des Mikado wurde
dessen Wohnpalast zerstört und für seinen Nachfolger ein neuer gebaut. Alle
Erbkaiser bis zum einundsechszigsten führen den Titel »Ten-o«, d. h. der Er-
habene vom Himmel. Der einundsechszigste nahm den Titel »In« an, d. h.
Palast; sein Name ist Dsu-dsiak-no-in, d. h. der Palast des rothen Vogels. Der
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[110/0140] Der Mikado. zu schlafen vorgiebt. Die Frauen wohnen jede in einem besonderen Hause, die Abendmalzeit wird bei allen aufgetragen; bei welcher dann der Mikado erscheint, vereinigen sich auch die übrigen zum Schmause, zu Gesang, Tanz und Saitenspiel. Nach dem Volks- glauben stirbt kein Mikado kinderlos; hat er selbst keinen Sohn, so schenkt ihm der Himmel einen, d. h. er findet unter einem Baume am Eingang des Palastes ein mit seiner Bewilligung aus den Agnaten gewähltes Kind. Dies scheint die übliche Form der Adoption im Hause des Mikado zu sein. — Im Palaste sollen viele Götzenbilder stehen; die Missionare erzählen, dass, wenn ein Unglück das Land betrifft, die Erbkaiser einen dieser Götzen beschuldigen und auspeitschen lassen, ihn nachher aber, um von seinem Zorne nicht Schaden zu leiden, wieder zu Gnaden aufnehmen und besänftigen. Nach uralter ostasiatischer Anschauung ist der Herrscher selbst für jedes das Land betreffende Unglück verant- wortlich, wie auch der Urheber allen Segens. Sturm und Sonnen- schein, Fruchtbarkeit und Misswachs, Erdbeben und Feuersbrünste kommen eben so gut auf seine Rechnung, als Kriegsruhm und Nie- derlagen, schlechte und gute Verwaltung. Kämpfer erzählt, dass in früherer Zeit der Mikado mit der Krone auf dem Haupte zum Wohle des Reiches täglich einige Stunden regungslos auf dem Throne habe sitzen müssen; rührte er sich nach der einen oder anderen Seite, so war in dieser Richtung das grösste Unglück zu befürchten. Später fand man, dass der Zweck viel leichter erreicht würde, wenn man die Krone allein auf den Thron setzte, bei der eine unwillkührliche Bewegung nicht leicht zu besorgen war. — Der Namen des regierenden Mikado wird geheim gehalten so lange er lebt, und es ist bei Todesstrafe verboten ihn auszusprechen; man bezeichnet seine Person gewöhnlich mit dem Ausdruck Daïri, d. h. Palast 109). 109) Nach seinem Tode erhält jeder Mikado einen Ehrennamen, mit welchem er in der Geschichte bezeichnet wird. Nach Klaproth (Note zu den Kaiserannalen) hatten diese Namen in der frühesten Zeit Beziehung auf die Eigenschaften der ver- storbenen Erbkaiser; seit dem sechsundfunfzigsten Mikado aber gab man ihnen die Namen der Paläste, welche sie bewohnt hatten. Beim Tode des Mikado wurde dessen Wohnpalast zerstört und für seinen Nachfolger ein neuer gebaut. Alle Erbkaiser bis zum einundsechszigsten führen den Titel »Ten-o«, d. h. der Er- habene vom Himmel. Der einundsechszigste nahm den Titel »In« an, d. h. Palast; sein Name ist Dsu-dsiak-no-in, d. h. der Palast des rothen Vogels. Der

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien01_1864/140>, abgerufen am 24.11.2024.