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Bechstein, Ludwig: Der Dunkelgraf. Frankfurt (Main), 1854.

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hatte. Endlich dachte er daran, entsiegelte es, las, und las mit immer wachsendem Erstaunen.

"Mein geliebter Leonardus!" so begann der letzte Brief einer todten Mutter an ihren todten Sohn: "wenn deine Augen auf diesen Zeilen weilen, wandle ich nicht mehr unter den Lebenden, bitte aber Gott, daß du an einem guten und dir Heil und Glück bringenden Tage lesen mögest, was ich niedergeschrieben habe, weil ich ein Geheimniß nicht mit unter die Erde nehmen will, das mich bisweilen bedrückte, das ich aber nicht offenbaren wollte aus Liebe zu dir. Du wirst mir nicht zürnen, mein lieber Leonardus, denn ich habe dir immer und immer die lebendigste Muttertreue bewiesen, obgleich ich nicht deine Mutter bin, mein Mann Adrianus nicht dein Vater ist, du, lieber Leonardus, unser Sohn nicht bist, obschon für unsern Sohn gehalten und als unser Sohn gehalten. Das eigenthümliche und seltsame Ereigniß, welches unser eigenes Kind uns nahm und ein fremdes Kind in unsere Arme legte, will ich dir mittheilen, du wirst darüber erstaunen, doch mir nicht zürnen, wenigstens glaube ich nicht, daß du dazu Ursache hast."

"Es war im Jahre 1765; Herr Adrianus van der Valck, mein Gemahl, hatte ein, einen längeren Aufenthalt erforderndes Handelsgeschäft in London abzuschließen; wir waren noch im ersten Jahre unseres Ehestandes, liebten uns herzinnig und konnten uns nicht zu einer langen Trennung entschließen; ich begleitete daher meinen Mann nach London und gebar dort nach einiger Zeit einen Sohn, dem wir in der heiligen Taufe den Namen Leonardus Cornelius beilegen ließen. Mit diesem Sohn, einem zarten Säugling, und mit meinem Manne schiffte ich mich später zur Rückfahrt ein. Das große Kauffahrteischiff, auf welchem wir fuhren, war unser Eigenthum; mit uns fuhr eine deutsche Herrschaft, nämlich eine schon bejahrte, wenigstens fünfzig Jahre zählende sehr stolze, aber doch auch wiederum sehr gute und außerordentlich kenntnißreiche Dame, welche mein Mann sehr verehrte, sie stets Frau Reichsgräfin nannte, und mit welcher er allerlei Geldgeschäfte abzumachen hatte. Diese Frau war begleitet von einer jungen Dame, ihrer Schwiegertochter, deren Gemahl in England zurückgeblieben war. Es war zwar auch eine sehr stolze, gegen mich aber doch gütige Frau, welche, gleich mir, auch in London

hatte. Endlich dachte er daran, entsiegelte es, las, und las mit immer wachsendem Erstaunen.

»Mein geliebter Leonardus!“ so begann der letzte Brief einer todten Mutter an ihren todten Sohn: „wenn deine Augen auf diesen Zeilen weilen, wandle ich nicht mehr unter den Lebenden, bitte aber Gott, daß du an einem guten und dir Heil und Glück bringenden Tage lesen mögest, was ich niedergeschrieben habe, weil ich ein Geheimniß nicht mit unter die Erde nehmen will, das mich bisweilen bedrückte, das ich aber nicht offenbaren wollte aus Liebe zu dir. Du wirst mir nicht zürnen, mein lieber Leonardus, denn ich habe dir immer und immer die lebendigste Muttertreue bewiesen, obgleich ich nicht deine Mutter bin, mein Mann Adrianus nicht dein Vater ist, du, lieber Leonardus, unser Sohn nicht bist, obschon für unsern Sohn gehalten und als unser Sohn gehalten. Das eigenthümliche und seltsame Ereigniß, welches unser eigenes Kind uns nahm und ein fremdes Kind in unsere Arme legte, will ich dir mittheilen, du wirst darüber erstaunen, doch mir nicht zürnen, wenigstens glaube ich nicht, daß du dazu Ursache hast.“

„Es war im Jahre 1765; Herr Adrianus van der Valck, mein Gemahl, hatte ein, einen längeren Aufenthalt erforderndes Handelsgeschäft in London abzuschließen; wir waren noch im ersten Jahre unseres Ehestandes, liebten uns herzinnig und konnten uns nicht zu einer langen Trennung entschließen; ich begleitete daher meinen Mann nach London und gebar dort nach einiger Zeit einen Sohn, dem wir in der heiligen Taufe den Namen Leonardus Cornelius beilegen ließen. Mit diesem Sohn, einem zarten Säugling, und mit meinem Manne schiffte ich mich später zur Rückfahrt ein. Das große Kauffahrteischiff, auf welchem wir fuhren, war unser Eigenthum; mit uns fuhr eine deutsche Herrschaft, nämlich eine schon bejahrte, wenigstens fünfzig Jahre zählende sehr stolze, aber doch auch wiederum sehr gute und außerordentlich kenntnißreiche Dame, welche mein Mann sehr verehrte, sie stets Frau Reichsgräfin nannte, und mit welcher er allerlei Geldgeschäfte abzumachen hatte. Diese Frau war begleitet von einer jungen Dame, ihrer Schwiegertochter, deren Gemahl in England zurückgeblieben war. Es war zwar auch eine sehr stolze, gegen mich aber doch gütige Frau, welche, gleich mir, auch in London

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[422/0426] hatte. Endlich dachte er daran, entsiegelte es, las, und las mit immer wachsendem Erstaunen. »Mein geliebter Leonardus!“ so begann der letzte Brief einer todten Mutter an ihren todten Sohn: „wenn deine Augen auf diesen Zeilen weilen, wandle ich nicht mehr unter den Lebenden, bitte aber Gott, daß du an einem guten und dir Heil und Glück bringenden Tage lesen mögest, was ich niedergeschrieben habe, weil ich ein Geheimniß nicht mit unter die Erde nehmen will, das mich bisweilen bedrückte, das ich aber nicht offenbaren wollte aus Liebe zu dir. Du wirst mir nicht zürnen, mein lieber Leonardus, denn ich habe dir immer und immer die lebendigste Muttertreue bewiesen, obgleich ich nicht deine Mutter bin, mein Mann Adrianus nicht dein Vater ist, du, lieber Leonardus, unser Sohn nicht bist, obschon für unsern Sohn gehalten und als unser Sohn gehalten. Das eigenthümliche und seltsame Ereigniß, welches unser eigenes Kind uns nahm und ein fremdes Kind in unsere Arme legte, will ich dir mittheilen, du wirst darüber erstaunen, doch mir nicht zürnen, wenigstens glaube ich nicht, daß du dazu Ursache hast.“ „Es war im Jahre 1765; Herr Adrianus van der Valck, mein Gemahl, hatte ein, einen längeren Aufenthalt erforderndes Handelsgeschäft in London abzuschließen; wir waren noch im ersten Jahre unseres Ehestandes, liebten uns herzinnig und konnten uns nicht zu einer langen Trennung entschließen; ich begleitete daher meinen Mann nach London und gebar dort nach einiger Zeit einen Sohn, dem wir in der heiligen Taufe den Namen Leonardus Cornelius beilegen ließen. Mit diesem Sohn, einem zarten Säugling, und mit meinem Manne schiffte ich mich später zur Rückfahrt ein. Das große Kauffahrteischiff, auf welchem wir fuhren, war unser Eigenthum; mit uns fuhr eine deutsche Herrschaft, nämlich eine schon bejahrte, wenigstens fünfzig Jahre zählende sehr stolze, aber doch auch wiederum sehr gute und außerordentlich kenntnißreiche Dame, welche mein Mann sehr verehrte, sie stets Frau Reichsgräfin nannte, und mit welcher er allerlei Geldgeschäfte abzumachen hatte. Diese Frau war begleitet von einer jungen Dame, ihrer Schwiegertochter, deren Gemahl in England zurückgeblieben war. Es war zwar auch eine sehr stolze, gegen mich aber doch gütige Frau, welche, gleich mir, auch in London

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Zitationshilfe: Bechstein, Ludwig: Der Dunkelgraf. Frankfurt (Main), 1854, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bechstein_dunkelgraf_1854/426>, abgerufen am 22.11.2024.