Bechstein, Ludwig: Der Dunkelgraf. Frankfurt (Main), 1854.Bekanntschaft mit dem Maire, bewirthete und beschenkte diesen, um ihn willfährig zu machen, und dieser beschied ihn auf die Mairie, wo in seiner Gegenwart Nachforschungen in den Acten angestellt werden sollten. Als Leonardus sich eingefunden hatte, sprach der Maire, der zwischen Actenhaufen vergraben saß, nachdem er den Fremden zum Sitzen eingeladen hatte: Sie kennen, Bürger, die Ereignisse der jüngsten Zeit. Sie war sehr blutig für die Vendee. Ich fürchte sehr, man hat nicht Papier genug gehabt, um die Namen der vielen vielen Tausende niederzuschreiben, welche der Krieg hinwürgte. Von der Familie Berthelmy lebt jetzt Niemand mehr in le Mans. Jener Mann, den Sie suchen, soll geblieben sein, sein Weib ging davon, oder verschwand auf räthselhafte Weise, seine Eltern sind beide todt, Geschwister hat er nicht gehabt. Daß er mit zu Felde zog, ist durch Acten verbürgt, daß er blieb, ist nicht verbürgt. Kann man denselben nicht in den öffentlichen Blättern ausschreiben lassen? fragte Leonardus. Wohl könnte man das, entgegnete der Maire: allein es würde wenig fruchten. Lebte der Bürger Etienne Berthelmy noch, so würde er längst wieder hier erschienen sein, um sein kleines Erbtheil in Empfang zu nehmen; sollte er aber wirklich noch am Leben sein, so würden ihn dennoch unsere Zeitungen schwerlich erreichen. Könnte er nicht für todt erklärt werden? Nein, Bürger, zu einer solchen Erklärung ist die Zeit seiner Abwesenheit viel zu kurz. Aber weßhalb dies Alles? Ich bin ein Verwandter von Berthelmy's vormaliger Frau; sie hat Gelegenheit, eine andere Wahl zu treffen, und will dies nicht eher, als bis sie rechtlich von ihrem Mann geschieden ist. Der Maire lächelte und sprach ironisch: Diese gute Frau scheint eine schlechte Bürgerin zu sein, daß sie noch so veraltete Rechtsbegriffe hegt. Wir haben uns, nachdem am dreizehnten December vorigen Jahres General Marceau in hiesiger Stadt fünfzehntausend Menschen an einem und demselben Tag erschießen ließ, ohne Ansehen des Alters und des Geschlechts, der glorreichen und untheilbaren Republik unterworfen; wir haben keine Kirche und kein Sacrament der Ehe mehr. Der Bürgerin Berthelmy steht es völlig frei, sich als geschieden zu betrachten und zu freien, wann und wen sie will. Bekanntschaft mit dem Maire, bewirthete und beschenkte diesen, um ihn willfährig zu machen, und dieser beschied ihn auf die Mairie, wo in seiner Gegenwart Nachforschungen in den Acten angestellt werden sollten. Als Leonardus sich eingefunden hatte, sprach der Maire, der zwischen Actenhaufen vergraben saß, nachdem er den Fremden zum Sitzen eingeladen hatte: Sie kennen, Bürger, die Ereignisse der jüngsten Zeit. Sie war sehr blutig für die Vendée. Ich fürchte sehr, man hat nicht Papier genug gehabt, um die Namen der vielen vielen Tausende niederzuschreiben, welche der Krieg hinwürgte. Von der Familie Berthelmy lebt jetzt Niemand mehr in le Mans. Jener Mann, den Sie suchen, soll geblieben sein, sein Weib ging davon, oder verschwand auf räthselhafte Weise, seine Eltern sind beide todt, Geschwister hat er nicht gehabt. Daß er mit zu Felde zog, ist durch Acten verbürgt, daß er blieb, ist nicht verbürgt. Kann man denselben nicht in den öffentlichen Blättern ausschreiben lassen? fragte Leonardus. Wohl könnte man das, entgegnete der Maire: allein es würde wenig fruchten. Lebte der Bürger Etienne Berthelmy noch, so würde er längst wieder hier erschienen sein, um sein kleines Erbtheil in Empfang zu nehmen; sollte er aber wirklich noch am Leben sein, so würden ihn dennoch unsere Zeitungen schwerlich erreichen. Könnte er nicht für todt erklärt werden? Nein, Bürger, zu einer solchen Erklärung ist die Zeit seiner Abwesenheit viel zu kurz. Aber weßhalb dies Alles? Ich bin ein Verwandter von Berthelmy’s vormaliger Frau; sie hat Gelegenheit, eine andere Wahl zu treffen, und will dies nicht eher, als bis sie rechtlich von ihrem Mann geschieden ist. Der Maire lächelte und sprach ironisch: Diese gute Frau scheint eine schlechte Bürgerin zu sein, daß sie noch so veraltete Rechtsbegriffe hegt. Wir haben uns, nachdem am dreizehnten December vorigen Jahres General Marceau in hiesiger Stadt fünfzehntausend Menschen an einem und demselben Tag erschießen ließ, ohne Ansehen des Alters und des Geschlechts, der glorreichen und untheilbaren Republik unterworfen; wir haben keine Kirche und kein Sacrament der Ehe mehr. Der Bürgerin Berthelmy steht es völlig frei, sich als geschieden zu betrachten und zu freien, wann und wen sie will. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0258" n="254"/> Bekanntschaft mit dem Maire, bewirthete und beschenkte diesen, um ihn willfährig zu machen, und dieser beschied ihn auf die Mairie, wo in seiner Gegenwart Nachforschungen in den Acten angestellt werden sollten. Als Leonardus sich eingefunden hatte, sprach der Maire, der zwischen Actenhaufen vergraben saß, nachdem er den Fremden zum Sitzen eingeladen hatte: Sie kennen, Bürger, die Ereignisse der jüngsten Zeit. Sie war sehr blutig für die Vendée. Ich fürchte sehr, man hat nicht Papier genug gehabt, um die Namen der vielen vielen Tausende niederzuschreiben, welche der Krieg hinwürgte. Von der Familie Berthelmy lebt jetzt Niemand mehr in le Mans. Jener Mann, den Sie suchen, soll geblieben sein, sein Weib ging davon, oder verschwand auf räthselhafte Weise, seine Eltern sind beide todt, Geschwister hat er nicht gehabt. Daß er mit zu Felde zog, ist durch Acten verbürgt, daß er blieb, ist nicht verbürgt.</p> <p>Kann man denselben nicht in den öffentlichen Blättern ausschreiben lassen? fragte Leonardus.</p> <p>Wohl könnte man das, entgegnete der Maire: allein es würde wenig fruchten. Lebte der Bürger Etienne Berthelmy noch, so würde er längst wieder hier erschienen sein, um sein kleines Erbtheil in Empfang zu nehmen; sollte er aber wirklich noch am Leben sein, so würden ihn dennoch unsere Zeitungen schwerlich erreichen.</p> <p>Könnte er nicht für todt erklärt werden?</p> <p>Nein, Bürger, zu einer solchen Erklärung ist die Zeit seiner Abwesenheit viel zu kurz. Aber weßhalb dies Alles?</p> <p>Ich bin ein Verwandter von Berthelmy’s vormaliger Frau; sie hat Gelegenheit, eine andere Wahl zu treffen, und will dies nicht eher, als bis sie rechtlich von ihrem Mann geschieden ist.</p> <p>Der Maire lächelte und sprach ironisch: Diese gute Frau scheint eine schlechte Bürgerin zu sein, daß sie noch so veraltete Rechtsbegriffe hegt. Wir haben uns, nachdem am dreizehnten December vorigen Jahres General Marceau in hiesiger Stadt fünfzehntausend Menschen an einem und demselben Tag erschießen ließ, ohne Ansehen des Alters und des Geschlechts, der glorreichen und untheilbaren Republik unterworfen; wir haben keine Kirche und kein Sacrament der Ehe mehr. Der Bürgerin Berthelmy steht es völlig frei, sich als geschieden zu betrachten und zu freien, wann und wen sie will.</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [254/0258]
Bekanntschaft mit dem Maire, bewirthete und beschenkte diesen, um ihn willfährig zu machen, und dieser beschied ihn auf die Mairie, wo in seiner Gegenwart Nachforschungen in den Acten angestellt werden sollten. Als Leonardus sich eingefunden hatte, sprach der Maire, der zwischen Actenhaufen vergraben saß, nachdem er den Fremden zum Sitzen eingeladen hatte: Sie kennen, Bürger, die Ereignisse der jüngsten Zeit. Sie war sehr blutig für die Vendée. Ich fürchte sehr, man hat nicht Papier genug gehabt, um die Namen der vielen vielen Tausende niederzuschreiben, welche der Krieg hinwürgte. Von der Familie Berthelmy lebt jetzt Niemand mehr in le Mans. Jener Mann, den Sie suchen, soll geblieben sein, sein Weib ging davon, oder verschwand auf räthselhafte Weise, seine Eltern sind beide todt, Geschwister hat er nicht gehabt. Daß er mit zu Felde zog, ist durch Acten verbürgt, daß er blieb, ist nicht verbürgt.
Kann man denselben nicht in den öffentlichen Blättern ausschreiben lassen? fragte Leonardus.
Wohl könnte man das, entgegnete der Maire: allein es würde wenig fruchten. Lebte der Bürger Etienne Berthelmy noch, so würde er längst wieder hier erschienen sein, um sein kleines Erbtheil in Empfang zu nehmen; sollte er aber wirklich noch am Leben sein, so würden ihn dennoch unsere Zeitungen schwerlich erreichen.
Könnte er nicht für todt erklärt werden?
Nein, Bürger, zu einer solchen Erklärung ist die Zeit seiner Abwesenheit viel zu kurz. Aber weßhalb dies Alles?
Ich bin ein Verwandter von Berthelmy’s vormaliger Frau; sie hat Gelegenheit, eine andere Wahl zu treffen, und will dies nicht eher, als bis sie rechtlich von ihrem Mann geschieden ist.
Der Maire lächelte und sprach ironisch: Diese gute Frau scheint eine schlechte Bürgerin zu sein, daß sie noch so veraltete Rechtsbegriffe hegt. Wir haben uns, nachdem am dreizehnten December vorigen Jahres General Marceau in hiesiger Stadt fünfzehntausend Menschen an einem und demselben Tag erschießen ließ, ohne Ansehen des Alters und des Geschlechts, der glorreichen und untheilbaren Republik unterworfen; wir haben keine Kirche und kein Sacrament der Ehe mehr. Der Bürgerin Berthelmy steht es völlig frei, sich als geschieden zu betrachten und zu freien, wann und wen sie will.
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