pba_064.001 schon hier der Vordersatz des Hauptthemas: "Das Kind wehklagt's noch pba_064.002 ungebor'n! Es ward sehr jammrig noch"; in dem zweiten Liede dann pba_064.003 die entfesselte Wut des Wechselmordens und die Trauer über das nutzlos pba_064.004 vergossene edle Blut: "Sie hoben einander auf, und stehen konnt pba_064.005 mancher, mancher nicht." "Das Kind wehklagt's noch ungebor'n, die pba_064.006 Jammerklaggeschicht'!" Es geschieht ja in dieser Ballade sehr viel, aber pba_064.007 der springende Punkt des Darstellungsinteresses (das telos mimeseos) pba_064.008 liegt nicht in der Mitteilung des historischen Ereignisses -- wie in den pba_064.009 Homerischen Gesängen Thaten und Kämpfe um ihrer selbst willen und pba_064.010 um des Anteils der einzelnen Helden willen vorgetragen werden --, pba_064.011 sondern in der Verkörperung der Sinnesart, die der Epoche den Charakter pba_064.012 verlieh und die in der Geschichte der feindlichen Nachbarvölker pba_064.013 eine so verhängnisvolle Rolle spielt. Alles einzelne und individuelle pba_064.014 hat die Sage und der Volksgesang diesem ethischen Jnteresse -- dem pba_064.015 Liedeszwecke -- mit wahrhaft staunenswerter Kunst entweder ganz geopfert pba_064.016 oder doch dienstbar gemacht.
pba_064.017
VI.
pba_064.018 Wenn eine bestimmte Begrenzung des Wesens der Ballade sonst pba_064.019 vermißt wird, so würde auf der Grundlage der obigen Voraussetzungen pba_064.020 sich die Definition derselben in folgender Weise herstellen:
pba_064.021 Die Ballade ist eine Dichtung, welche den Zweck hat ein pba_064.022 Ethos nachahmend darzustellen und zwar vermittelst der pba_064.023 Erzählung eines Vorganges oder einer Handlung. Sie gehört pba_064.024 also ihrem Wesen nach der lyrischen Gattung an und nur ihren pba_064.025 äußeren Mitteln nach der epischen; eben darum aber -- da das pba_064.026 Mittel nie den Zweck verdrängen oder auch nur verdunkeln soll -- darf pba_064.027 die Erzählung niemals epischen Charakter annehmen, sondern muß pba_064.028 dem lyrischen Hauptzweck dienen und also auf die bloße Andeutungpba_064.029 der Vorgänge und Handlungen sich einschränken. Eben daher ist ihre pba_064.030 Haltung liedartig und es gehört zu ihrem Wesen, daß sie sangbar pba_064.031 ist,1 wie denn auch alle Volks-Balladen gesungene Lieder sind.
pba_064.032 Damit wäre zugleich erklärt, warum die Ballade mit Vorliebe auf pba_064.033 dem Boden mythischer und historischer Sage sich bewegt, weil dort
1pba_064.034 Hierin liegt ein untrügliches Merkmal der Unterscheidung der echten Ballade pba_064.035 von der Pseudo-Ballade; die Schillerschen poetischen Erzählungen, die als Balladen pba_064.036 gelten, widerstreben dem Gesange fast ausnahmslos eben so sehr, als die Goethe-pba_064.037 schen dazu auffordern.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/82>, abgerufen am 22.11.2024.
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