Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_043.001 pba_043.004 pba_043.017 pba_043.024 1 pba_043.030
Vgl. Buch II. Brief an W., 12. Dezember (cf. Hempel, B. XIV, S. 103). pba_043.031 "Jch bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen pba_043.032 man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift pba_043.033 mich's; es ist nicht Angst, nicht Begier -- es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das pba_043.034 meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe, wehe! Und pba_043.035 dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieser menschenfeindlichen pba_043.036 Jahreszeit." pba_043.037 "Gestern Abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen; ich pba_043.038 hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen, und von Wahlheim pba_043.039 herunter mein liebes Thal überschwemmt! Nachts nach Elfe rannte ich hinaus. Ein pba_043.040 fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte pba_043.041 wirbeln zu sehen, über Aecker und Wiesen und Hecken und Alles und das weite Thal pba_043.001 pba_043.004 pba_043.017 pba_043.024 1 pba_043.030
Vgl. Buch II. Brief an W., 12. Dezember (cf. Hempel, B. XIV, S. 103). pba_043.031 „Jch bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen pba_043.032 man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift pba_043.033 mich's; es ist nicht Angst, nicht Begier — es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das pba_043.034 meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe, wehe! Und pba_043.035 dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieser menschenfeindlichen pba_043.036 Jahreszeit.“ pba_043.037 „Gestern Abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen; ich pba_043.038 hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen, und von Wahlheim pba_043.039 herunter mein liebes Thal überschwemmt! Nachts nach Elfe rannte ich hinaus. Ein pba_043.040 fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte pba_043.041 wirbeln zu sehen, über Aecker und Wiesen und Hecken und Alles und das weite Thal <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0061" n="43"/><lb n="pba_043.001"/> Disposition nicht abnorm ist, sondern der Gattung angehörig, oder gar <lb n="pba_043.002"/> wenn darin, was zu dem echten Kunstwerk erfordert wird, die Bestimmung <lb n="pba_043.003"/> der Gattung nach irgend einer Richtung hin sich erfüllt.</p> <p><lb n="pba_043.004"/> Es liegt dieser unmittelbaren Wirkung, die keines Dazwischentretens <lb n="pba_043.005"/> psychischer Vorstellungen bedarf, ein Zusammenhang zu Grunde, der gerade <lb n="pba_043.006"/> in seinen mächtigsten Aeußerungen wohl immer ein Geheimnis bleiben <lb n="pba_043.007"/> wird, zwischen Figuren, Farben und Tönen samt ihren Veränderungen <lb n="pba_043.008"/> und den Bewegungen unserer Seele. Diese dunkle Gewalt, die sich schon <lb n="pba_043.009"/> bloß sinnlich kundgibt, ist nun aber dem freien Gebrauch des künstlerischen <lb n="pba_043.010"/> Willens anheimgegeben. Jhren Ursprung kennt auch der <lb n="pba_043.011"/> Künstler nicht, aber weil jener Zusammenhang ein <hi rendition="#g">natürlicher</hi> ist, <lb n="pba_043.012"/> kann er souverän über sie verfügen. Sie wird mißbraucht, wenn sie <lb n="pba_043.013"/> verwandt wird eben <hi rendition="#g">nur</hi> aufzuregen, zu frivolem Spiel oder zu chaotischem <lb n="pba_043.014"/> Wirbel; aber sie vermag den höchsten Zwecken der Kunst zu dienen, <lb n="pba_043.015"/> wenn sie gleichsam die Elementarkräfte großer und reicher Seelen uns <lb n="pba_043.016"/> abspiegelt und unmittelbar mit analogen Bewegungen uns durchdringt.</p> <p><lb n="pba_043.017"/> Für den echten Dichter ist somit die Verwendung der Naturobjekte, <lb n="pba_043.018"/> welche bei dem Stümper zu äußerlichem Dekorationswerk herabsinkt, <lb n="pba_043.019"/> eines der wirksamsten Mittel der Seelenmalerei, mag er nun dieselben <lb n="pba_043.020"/> in lebendiger Bewegung vorführen oder auch durch ihre bloße Erwähnung <lb n="pba_043.021"/> seine Wirkung zu erreichen suchen, wie namentlich die Romantik und die <lb n="pba_043.022"/> gesamte modernere Richtung der leidenschaftlich erregten sentimentalen <lb n="pba_043.023"/> und weltschmerzlichen Poesie es liebt.</p> <p><lb n="pba_043.024"/> Es darf, um diese Kunst in ihrer Vollendung zu zeigen, nur an <lb n="pba_043.025"/> Goethes <hi rendition="#g">Werther</hi> erinnert werden und an die Meisterschaft, mit der <lb n="pba_043.026"/> dort überall die Naturdinge als das wirksamste Material für die Nachahmung <lb n="pba_043.027"/> der verhängnisvollen Elementargewalt behandelt sind, mit welcher <lb n="pba_043.028"/> die dunkleren Empfindungskräfte (<foreign xml:lang="grc">δυνάμεις τῶν παθῶν</foreign>), noch ungeklärt <lb n="pba_043.029"/> und ungesondert, die Seele bestürmen.<note xml:id="pba_043_1a" n="1" place="foot" next="#pba_043_1b"><lb n="pba_043.030"/> Vgl. 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Disposition nicht abnorm ist, sondern der Gattung angehörig, oder gar pba_043.002
wenn darin, was zu dem echten Kunstwerk erfordert wird, die Bestimmung pba_043.003
der Gattung nach irgend einer Richtung hin sich erfüllt.
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Es liegt dieser unmittelbaren Wirkung, die keines Dazwischentretens pba_043.005
psychischer Vorstellungen bedarf, ein Zusammenhang zu Grunde, der gerade pba_043.006
in seinen mächtigsten Aeußerungen wohl immer ein Geheimnis bleiben pba_043.007
wird, zwischen Figuren, Farben und Tönen samt ihren Veränderungen pba_043.008
und den Bewegungen unserer Seele. Diese dunkle Gewalt, die sich schon pba_043.009
bloß sinnlich kundgibt, ist nun aber dem freien Gebrauch des künstlerischen pba_043.010
Willens anheimgegeben. Jhren Ursprung kennt auch der pba_043.011
Künstler nicht, aber weil jener Zusammenhang ein natürlicher ist, pba_043.012
kann er souverän über sie verfügen. Sie wird mißbraucht, wenn sie pba_043.013
verwandt wird eben nur aufzuregen, zu frivolem Spiel oder zu chaotischem pba_043.014
Wirbel; aber sie vermag den höchsten Zwecken der Kunst zu dienen, pba_043.015
wenn sie gleichsam die Elementarkräfte großer und reicher Seelen uns pba_043.016
abspiegelt und unmittelbar mit analogen Bewegungen uns durchdringt.
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Für den echten Dichter ist somit die Verwendung der Naturobjekte, pba_043.018
welche bei dem Stümper zu äußerlichem Dekorationswerk herabsinkt, pba_043.019
eines der wirksamsten Mittel der Seelenmalerei, mag er nun dieselben pba_043.020
in lebendiger Bewegung vorführen oder auch durch ihre bloße Erwähnung pba_043.021
seine Wirkung zu erreichen suchen, wie namentlich die Romantik und die pba_043.022
gesamte modernere Richtung der leidenschaftlich erregten sentimentalen pba_043.023
und weltschmerzlichen Poesie es liebt.
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Es darf, um diese Kunst in ihrer Vollendung zu zeigen, nur an pba_043.025
Goethes Werther erinnert werden und an die Meisterschaft, mit der pba_043.026
dort überall die Naturdinge als das wirksamste Material für die Nachahmung pba_043.027
der verhängnisvollen Elementargewalt behandelt sind, mit welcher pba_043.028
die dunkleren Empfindungskräfte (δυνάμεις τῶν παθῶν), noch ungeklärt pba_043.029
und ungesondert, die Seele bestürmen. 1 Oder es mögen, um ein anderes
1 pba_043.030
Vgl. Buch II. Brief an W., 12. Dezember (cf. Hempel, B. XIV, S. 103). pba_043.031
„Jch bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen pba_043.032
man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift pba_043.033
mich's; es ist nicht Angst, nicht Begier — es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das pba_043.034
meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe, wehe! Und pba_043.035
dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieser menschenfeindlichen pba_043.036
Jahreszeit.“ pba_043.037
„Gestern Abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen; ich pba_043.038
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herunter mein liebes Thal überschwemmt! Nachts nach Elfe rannte ich hinaus. Ein pba_043.040
fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte pba_043.041
wirbeln zu sehen, über Aecker und Wiesen und Hecken und Alles und das weite Thal
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