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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Disposition nicht abnorm ist, sondern der Gattung angehörig, oder gar pba_043.002
wenn darin, was zu dem echten Kunstwerk erfordert wird, die Bestimmung pba_043.003
der Gattung nach irgend einer Richtung hin sich erfüllt.

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Es liegt dieser unmittelbaren Wirkung, die keines Dazwischentretens pba_043.005
psychischer Vorstellungen bedarf, ein Zusammenhang zu Grunde, der gerade pba_043.006
in seinen mächtigsten Aeußerungen wohl immer ein Geheimnis bleiben pba_043.007
wird, zwischen Figuren, Farben und Tönen samt ihren Veränderungen pba_043.008
und den Bewegungen unserer Seele. Diese dunkle Gewalt, die sich schon pba_043.009
bloß sinnlich kundgibt, ist nun aber dem freien Gebrauch des künstlerischen pba_043.010
Willens anheimgegeben. Jhren Ursprung kennt auch der pba_043.011
Künstler nicht, aber weil jener Zusammenhang ein natürlicher ist, pba_043.012
kann er souverän über sie verfügen. Sie wird mißbraucht, wenn sie pba_043.013
verwandt wird eben nur aufzuregen, zu frivolem Spiel oder zu chaotischem pba_043.014
Wirbel; aber sie vermag den höchsten Zwecken der Kunst zu dienen, pba_043.015
wenn sie gleichsam die Elementarkräfte großer und reicher Seelen uns pba_043.016
abspiegelt und unmittelbar mit analogen Bewegungen uns durchdringt.

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Für den echten Dichter ist somit die Verwendung der Naturobjekte, pba_043.018
welche bei dem Stümper zu äußerlichem Dekorationswerk herabsinkt, pba_043.019
eines der wirksamsten Mittel der Seelenmalerei, mag er nun dieselben pba_043.020
in lebendiger Bewegung vorführen oder auch durch ihre bloße Erwähnung pba_043.021
seine Wirkung zu erreichen suchen, wie namentlich die Romantik und die pba_043.022
gesamte modernere Richtung der leidenschaftlich erregten sentimentalen pba_043.023
und weltschmerzlichen Poesie es liebt.

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Es darf, um diese Kunst in ihrer Vollendung zu zeigen, nur an pba_043.025
Goethes Werther erinnert werden und an die Meisterschaft, mit der pba_043.026
dort überall die Naturdinge als das wirksamste Material für die Nachahmung pba_043.027
der verhängnisvollen Elementargewalt behandelt sind, mit welcher pba_043.028
die dunkleren Empfindungskräfte (dunameis ton pathon), noch ungeklärt pba_043.029
und ungesondert, die Seele bestürmen.1 Oder es mögen, um ein anderes

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Vgl. Buch II. Brief an W., 12. Dezember (cf. Hempel, B. XIV, S. 103). pba_043.031
"Jch bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen pba_043.032
man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift pba_043.033
mich's; es ist nicht Angst, nicht Begier -- es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das pba_043.034
meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe, wehe! Und pba_043.035
dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieser menschenfeindlichen pba_043.036
Jahreszeit." pba_043.037
"Gestern Abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen; ich pba_043.038
hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen, und von Wahlheim pba_043.039
herunter mein liebes Thal überschwemmt! Nachts nach Elfe rannte ich hinaus. Ein pba_043.040
fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte pba_043.041
wirbeln zu sehen, über Aecker und Wiesen und Hecken und Alles und das weite Thal

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Disposition nicht abnorm ist, sondern der Gattung angehörig, oder gar pba_043.002
wenn darin, was zu dem echten Kunstwerk erfordert wird, die Bestimmung pba_043.003
der Gattung nach irgend einer Richtung hin sich erfüllt.

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Es liegt dieser unmittelbaren Wirkung, die keines Dazwischentretens pba_043.005
psychischer Vorstellungen bedarf, ein Zusammenhang zu Grunde, der gerade pba_043.006
in seinen mächtigsten Aeußerungen wohl immer ein Geheimnis bleiben pba_043.007
wird, zwischen Figuren, Farben und Tönen samt ihren Veränderungen pba_043.008
und den Bewegungen unserer Seele. Diese dunkle Gewalt, die sich schon pba_043.009
bloß sinnlich kundgibt, ist nun aber dem freien Gebrauch des künstlerischen pba_043.010
Willens anheimgegeben. Jhren Ursprung kennt auch der pba_043.011
Künstler nicht, aber weil jener Zusammenhang ein natürlicher ist, pba_043.012
kann er souverän über sie verfügen. Sie wird mißbraucht, wenn sie pba_043.013
verwandt wird eben nur aufzuregen, zu frivolem Spiel oder zu chaotischem pba_043.014
Wirbel; aber sie vermag den höchsten Zwecken der Kunst zu dienen, pba_043.015
wenn sie gleichsam die Elementarkräfte großer und reicher Seelen uns pba_043.016
abspiegelt und unmittelbar mit analogen Bewegungen uns durchdringt.

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Für den echten Dichter ist somit die Verwendung der Naturobjekte, pba_043.018
welche bei dem Stümper zu äußerlichem Dekorationswerk herabsinkt, pba_043.019
eines der wirksamsten Mittel der Seelenmalerei, mag er nun dieselben pba_043.020
in lebendiger Bewegung vorführen oder auch durch ihre bloße Erwähnung pba_043.021
seine Wirkung zu erreichen suchen, wie namentlich die Romantik und die pba_043.022
gesamte modernere Richtung der leidenschaftlich erregten sentimentalen pba_043.023
und weltschmerzlichen Poesie es liebt.

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Es darf, um diese Kunst in ihrer Vollendung zu zeigen, nur an pba_043.025
Goethes Werther erinnert werden und an die Meisterschaft, mit der pba_043.026
dort überall die Naturdinge als das wirksamste Material für die Nachahmung pba_043.027
der verhängnisvollen Elementargewalt behandelt sind, mit welcher pba_043.028
die dunkleren Empfindungskräfte (δυνάμεις τῶν παθῶν), noch ungeklärt pba_043.029
und ungesondert, die Seele bestürmen.1 Oder es mögen, um ein anderes

1 pba_043.030
Vgl. Buch II. Brief an W., 12. Dezember (cf. Hempel, B. XIV, S. 103). pba_043.031
„Jch bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen pba_043.032
man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift pba_043.033
mich's; es ist nicht Angst, nicht Begier — es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das pba_043.034
meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe, wehe! Und pba_043.035
dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieser menschenfeindlichen pba_043.036
Jahreszeit.“ pba_043.037
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herunter mein liebes Thal überschwemmt! Nachts nach Elfe rannte ich hinaus. Ein pba_043.040
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[43/0061] pba_043.001 Disposition nicht abnorm ist, sondern der Gattung angehörig, oder gar pba_043.002 wenn darin, was zu dem echten Kunstwerk erfordert wird, die Bestimmung pba_043.003 der Gattung nach irgend einer Richtung hin sich erfüllt. pba_043.004 Es liegt dieser unmittelbaren Wirkung, die keines Dazwischentretens pba_043.005 psychischer Vorstellungen bedarf, ein Zusammenhang zu Grunde, der gerade pba_043.006 in seinen mächtigsten Aeußerungen wohl immer ein Geheimnis bleiben pba_043.007 wird, zwischen Figuren, Farben und Tönen samt ihren Veränderungen pba_043.008 und den Bewegungen unserer Seele. Diese dunkle Gewalt, die sich schon pba_043.009 bloß sinnlich kundgibt, ist nun aber dem freien Gebrauch des künstlerischen pba_043.010 Willens anheimgegeben. Jhren Ursprung kennt auch der pba_043.011 Künstler nicht, aber weil jener Zusammenhang ein natürlicher ist, pba_043.012 kann er souverän über sie verfügen. Sie wird mißbraucht, wenn sie pba_043.013 verwandt wird eben nur aufzuregen, zu frivolem Spiel oder zu chaotischem pba_043.014 Wirbel; aber sie vermag den höchsten Zwecken der Kunst zu dienen, pba_043.015 wenn sie gleichsam die Elementarkräfte großer und reicher Seelen uns pba_043.016 abspiegelt und unmittelbar mit analogen Bewegungen uns durchdringt. pba_043.017 Für den echten Dichter ist somit die Verwendung der Naturobjekte, pba_043.018 welche bei dem Stümper zu äußerlichem Dekorationswerk herabsinkt, pba_043.019 eines der wirksamsten Mittel der Seelenmalerei, mag er nun dieselben pba_043.020 in lebendiger Bewegung vorführen oder auch durch ihre bloße Erwähnung pba_043.021 seine Wirkung zu erreichen suchen, wie namentlich die Romantik und die pba_043.022 gesamte modernere Richtung der leidenschaftlich erregten sentimentalen pba_043.023 und weltschmerzlichen Poesie es liebt. pba_043.024 Es darf, um diese Kunst in ihrer Vollendung zu zeigen, nur an pba_043.025 Goethes Werther erinnert werden und an die Meisterschaft, mit der pba_043.026 dort überall die Naturdinge als das wirksamste Material für die Nachahmung pba_043.027 der verhängnisvollen Elementargewalt behandelt sind, mit welcher pba_043.028 die dunkleren Empfindungskräfte (δυνάμεις τῶν παθῶν), noch ungeklärt pba_043.029 und ungesondert, die Seele bestürmen. 1 Oder es mögen, um ein anderes 1 pba_043.030 Vgl. Buch II. Brief an W., 12. Dezember (cf. Hempel, B. XIV, S. 103). pba_043.031 „Jch bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen pba_043.032 man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift pba_043.033 mich's; es ist nicht Angst, nicht Begier — es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das pba_043.034 meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe, wehe! Und pba_043.035 dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieser menschenfeindlichen pba_043.036 Jahreszeit.“ pba_043.037 „Gestern Abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen; ich pba_043.038 hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen, und von Wahlheim pba_043.039 herunter mein liebes Thal überschwemmt! Nachts nach Elfe rannte ich hinaus. Ein pba_043.040 fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte pba_043.041 wirbeln zu sehen, über Aecker und Wiesen und Hecken und Alles und das weite Thal

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/61>, abgerufen am 22.11.2024.